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The Psychology of Totalitarianism
ISBN: 978-1645021728, Chelsea Green Publishing (23. Juni, 2022), 204 S., € 23,94
Der Kybernetiker Heinz von Förster behauptete einmal, das Wort Science stamme vom gleichen Wortstamm wie scism, was (ab-)schneiden bedeutet. Im Gegensatz zur heutigen, exakten Wissenschaft – in welcher A B verursacht, jedoch nicht das Gegenteil – konzentriert sich seine Kybernetik, als Systemwissenschaft, die sich mit regulativen und zielgerichteten Systemen befasst – in welchen A B, und B wiederum A verursacht –, mehr auf die Verbindung von Dingen, als sie nur in immer kleinere Teile zu zerlegen. In ähnlicher Weise stellt der klinische Psychologe und Statistiker Mattias Desmet in seinem Buch The Psychology of Totalitarianism, das ich hier aus einer Systemperspektive rezensiere, die er wiederum als Werkzeug für seine Analysen verwendet, fest, dass wir als Gesellschaft inzwischen wirklich glauben, dass eine rationale Analyse unserer Welt die höchste Autorität besitzt. Fünfhundert Jahre in der Aufklärung scheint so eine analytische Sichtweise jedoch, wie Desmet im Laufe seines Buches ausführt, immer fragwürdiger.
Im ersten Teil seines Buches, der die Kapitel eins bis fünf umfasst, spricht Mattias Desmet über die Bedeutung von Zahlen: Wenn wir etwas mit Zahlen verbinden, nehmen wir es oftmals als gegebenes Faktum wahr. Bereits zuvor hat mein Mentor, der fuzzy Systemiker Lotfi Zadeh mit seinem Computing with Words and Perceptions auf dieses Paradoxon hingewiesen. Diese stellt die wissenschaftliche Tradition des Zerschneidens (vgl. von Förster Behauptung zu Beginn), wie sie auch Desmet in Science and its Psychological Effects (S. 14 ff.) darstellt, grundsätzlich in Frage. In den ersten fünf Kapiteln geht es demzufolge vor allem darum, wie ein technokratisches Weltbild sozialpsychologische Bedingungen schafft, unter denen Massenpsychosen und -formationen, als eine Art Hypnose unserer Gesellschaft gedeihen können.
Der zweite Teil über Mass Formation and Totalitarianism (S. 83 ff.) beschreibt in den Kapiteln sechs, sieben und acht das Phänomen der Massenformation, das heißt, wie und warum wir Menschen bereit sind, unsere jeweilige(n) Freiheit(en) aufzugeben, und wie wir als Massen totalitäre Führer hervorbringen können. Im 20. Jahrhundert entstanden mit dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus neue Staatsformen, die als Totalitarismus bezeichnet werden. Sie unterscheiden sich durch ihre „one-party structure and its disregard for basic democratic principles“ (S. 85) von Demokratien und durch ihre „structure and in dynamics“ (dito) von diktatorischen Regierungsformen. Die Kombination mit dem Phänomen der Massenformation, das die heutigen Technologien zu begünstigen scheinen, führte während der Pandemie gemäß Desmet zu fragwürdigen Resultaten. Ihm zufolge entstehen (hypnotische) Massenpsychosen und -formationen in Gesellschaften vor allem dann, wenn ein großes Maß an Angst und Unruhe herrscht. Wenn dies der Fall ist, können sich die Ängste zunehmend auf ein Objekt richten, wie die Juden (in Nazi-Deutschland) oder die Aristokraten (in der stalinistischen Sowjetunion) – oder eben ein Virus.
Im dritten Teil Beyond the Mechanistic Worldview (S. 136 ff.) schließlich untersucht Mattias Desmet in den Kapiteln neun bis elf einen Weg, den gegenwärtigen Zustand von den Menschen und der Welt zu überwinden, um den Totalitarismus aus psychologischer Sicht überflüssig zu machen. Da es sich bei der Massenformation seiner Ansicht nach um eine Hypnose der Gesellschaft handelt, schlägt er den Menschen, die sich nicht im Griff der Massenformation befinden, vor, „continuing to speak out as calmly and wisely as possible“ (S. 133), um sich aus ihr zu befreien. Die Grenzen der Wissenschaft zu akzeptieren, ist laut Desmet dabei eine sehr hilfreiche Sache: Wir müssen uns auf eine andere Sicht der Welt zubewegen, in der die Rationalität nicht so zentral ist wie in unserer heutigen Sicht auf die Menschen und die Welt.
Hannah Arendt erklärte schon vor mehr als siebzig Jahren, dass wir den Untergang des Nationalsozialismus miterlebt haben und sie erwartete, bereits 1951, dass sie und ihre Zeitgenossen noch den Untergang des Stalinismus miterleben würden; doch sie befürchtete auch, dass wir danach die Entstehung einer neuen Art von Totalitarismus erleben könnten. Dieser Totalitarismus werde kein faschistischer oder kommunistischer Totalitarismus sein, meinte sie, aber er könn(t)e von „dull bureaucrats and technocrats“ (S. 7 und 86) ausgehen. Mattias Desmet bezeichnet dies als technokratischen Totalitarismus. Dieser geht davon aus, dass alle unsere Probleme nur durch die technologische Kontrolle (auch bekannt als Transhumanismus, S. 44 ff.) der Gesellschaft gelöst werden können.
In dem Maße, wie Menschen die Technik immer mehr und immer exzessiver nutzen, neigen sie laut Desmet auf psychologischer Ebene dazu, sich sowohl voneinander als auch von ihrer natürlichen Umgebung und der Natur abzukoppeln. Und wenn sie sich erst einmal in einem Zustand befinden, den er nach Arendt als eine Art sozial atomisierten Zustand bezeichnet, scheinen Menschen mit einem Mangel an Sinnstiftung im Leben, einem Mangel an Zielen und auch mit einer Art freischwebender Angst, Frustration und Aggression zu kämpfen. Dieser Zustand (voller sogenannter bullshit jobs, S. 30 ff.) macht Menschen anfällig für Massenformation. Dies scheint mir persönlich auch für die Gestaltung und Entwicklung neuer ethischer und nachhaltiger technischer Systeme eine wichtige Erkenntnis zu sein. Vielleicht sollten wir uns um mehr Natürlichkeit unserer Systeme respektive ihrer natürlichen (Aus)Wirkung(en) bemühen? Oder sollten wir vielleicht empathisch(er)e Technologien anstreben, die uns Menschen auf natürliche Weise mit der Welt agieren lassen?
Jedenfalls kann ich dieses Buch, aus der interdisziplinären Schnittmenge von Psychologie, Technologie und Staatswissenschaft, jedem, der sich mit komplexen soziotechnischen Systemen beschäftigt, nur wärmstens empfehlen. Es ist leicht zu lesen und zu verstehen, enthält aber schwer verdauliche Brocken. Dennoch zeigt es uns auf schonungslose Art und Weise die Probleme unseres derzeitigen Wissenschaftsverständnisses, dem Abschneiden einzelner, tendenziell gefühlsbasierten Teile (vgl. von Förster), auf. Es zeigt aber auch postwissenschaftliche Lösungen von rituals (S. 28 und S. 110) auf, von denen während der Coronapandemie neue, jedoch leider keine nachhaltigen, entstanden sind, als Möglichkeit, unsere materialistischen und mechanistischen Weltbilder aufzubrechen.
„The human body“, so Desmet, „is a stringed instrument“ (S. 40). Wir haben Muskeln über unserem Skelett, und sie vibrieren; doch, wenn wir uns in unsere logischen Konstruktionen einschließen, hören wir auf zu vibrieren und mit der „frequency of things“ (S. 170) um uns herum zu schwingen. Dies spiegelt auch Computing with Words and Perceptions (vgl. Zadeh) wider, das langsam einen gefühlten Effekt auf die Wissenschaft und ihrer Schaffung smarter(er) Systeme, die unter anderem auch Ethik und Nachhaltigkeit adressieren, hat. Zusätzlich zu einem Formalismus befähigt dies unsere Mathematik, Lösungen für Probleme zu konstruieren, die in einer natürlichen Sprache, also eine von Menschen gesprochene Sprache, formuliert sind. Gefühlsbasierte Wahrnehmungen kommunizieren wir Menschen, so erkennt die Wissenschaft langsam, mittels unserer natürlichen Sprache. Jedenfalls können wir auf diese Weise sensibel(er) werden für einen „nonfactual and nonlogical use of language, a use of language that shows individuality and creativity“ (S. 167); und indem Kinder diesen Sprachgebrauch üben, entdecken diese „the resonating function of language and the connection with the other“ (dito). Eine systematische Anwendung von Computing with Words and Perceptions auf Innovationen ist mein Beitrag zur Überwindung des technologischen Totalitarismus, über den Mattias Desmet so erschreckend schreibt.
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Portmann, E. Rezension „The Psychology of Totalitarianism“. HMD 59, 1657–1659 (2022). https://doi.org/10.1365/s40702-022-00916-2
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