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Seite:Die Gartenlaube (1885) 771.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)


bedächtigen Verstand abgiebt. Dann legt sich die graue Reflexion über alle Herrlichkeit der Natur, und unfruchtbare Melancholie gestaltet die Berghäupter zu eisgrauen Riesen, die den Menschen Böses sinnen, die Wellen zu tückischen Wassergeistern, welche gläubige Knaben und Mägdelein in die nasse Fluth hinablocken. Düster erscheint solcher Betrachtung, was im Sonnenscheine kurz vorher noch hell und licht gewesen. Der Königssee steht im Verrufe einer furchtbaren Ernsthaftigkeit, weil nicht lachende Ufer ihn umsäumen, sondern nacktes Gestein und kühle Waldeinsamkeit. Aber er ist gar nicht so ernsthaft, obgleich er – ein echter König – die Menschen erst eine Weile antichambriren läßt, bis er sich ihnen in seiner ganzen Größe zeigt. Mußt, neugieriger Besucher, erst um die kleine Christliegerinsel, um die von oben malerisch herabwinkende Villa Beust und um die Rabenwand herum, bis du daran glaubst, daß es ein wirklicher See ist, den du befährst. Dann aber weißt du nicht, wohin du zuerst den Blick wenden sollst in diesem wunderbaren Panorama zwischen dem Malerwinkel und Sankt Bartholomä, das, ein weißes Schlößlein auf grünem Vorsprung in der Ferne mit den Wellen zu verfließen scheint. Und wenn du endlich über Sankt Bartholomä hinaus bist, dann führt eine jähe Biegung zum Obersee, an dessen anderem Ende die Welt vor dir verbarrikadirt ist von den himmelhohen Wänden, die das Steinerne Meer gegen den See begrenzen. Hier allerdings ist erschreckende Stille, grandioses Schweigen, und man braucht kein Philosoph von Profession zu sein, ja nicht einmal ein Geologe, um an die Hilflosigkeit des kleinen Menschenvolks zu denken inmitten der zürnenden Gewalten der Natur. Was mag nur den mitteldeutschen Fürsten bewogen haben, sich in diese grausame Felsenöde ein zierliches Schweizerhaus hineinzubauen, in welchem er alljährlich ein paar Sommermonate verbringt? Studirt er als leidenschaftlicher Theatermann die Scenerie, um sie auf die Bühne zu übertragen, die ihm eine vielbestrittene Blüthe der Dekoration verdankt? Du lieber Gott, so naturwahr, wie diese finstere Wirklichkeit ist, möchte kein Maler der Welt ihr Abbild auf die Leinwand zaubern.

Alle Achtung vor dem Realismus, der heutzutage in Kunst und Dichtung das große Wort hat! Wenn er weiter nichts will, als sklavisch nachgestalten, was die Ohren hören, die Augen sehen, die Nase riecht und die Fingerspitzen tasten, so soll ihm sein Handwerk nicht verübelt sein. Aber schildere mir doch Einer den Glanz, der bei Sonnenschein auf dem Königssee liegt, die Nebel, welche ihn des Morgens verhüllen, mit dem unzulänglichen Mittel des Wortes und der Farbe. Ich spüre ein leises Frösteln und hülle mich fester in den Mantel; die Sonne ist noch nicht hinter dem Untersberg hervorgekommen; die Wellen murmeln um mein Boot ihr Morgengebet, und die Bäume am Ufer, halb herabhängend von dem kalten Gestein, flüstern geheimnißvolle Geschichten von der Nacht, die eben vor dem Morgenroth entflohen – wer sagt mir, was ich empfinde, was meine unruhig schweifenden Gedanken bewegt? Es knallt ein Schuß, und ich fahre unruhig auf; unter den Läufen einer Gemse, die zum Futterstande eilt, bröckelt der Fels; eintönig rieselt das Gewässer des Königsbaches zum See herab, und wie fernes Echo klingt der herzhafte Juchzer einer Sennerin durch die Stille. Dann wieder, zu vorgeschrittener Tageszeit, glitzern hundert Lichter über der Wasserfläche; der Blick irrt hinaus, bis wo sich der Horizont am Lattengebirge öffnet und der wunderliche Montgelaskopf die Aussicht begrenzt, dieses komische Bergeshaupt mit den Zügen eines alten Weibes, welche weiland König Ludwig so lebhaft an seinen Minister erinnerten, daß er dessen Namen in dem Berge verewigte; lachende Menschenkinder steuern über den See, und ein Tourist bläst auf dem Waldhorn melancholische deutsche Weisen. Solchen Eindrücken kommt kein Realist bei; sie wirbeln, stimmend und bestimmend, unaufhörlich durch einander und sind längst dahin, wenn man sie festhalten will.

Gemalt und besungen haben Viele den Königssee; drüben im Malerwinkel unter weißem Schirmdach sitzt ein bloßer Künstler und müht sich, eine „Abenddämmerung am Königssee“, einen „Blick auf die Saletalp“, ein „Sankt Bartholomä in der Morgensonne“ seiner Palette abzugewinnen. Oder ein junger Poet schaukelt im Kahne und kritzelt auf ein Blatt Papier pathetische Verse von der wilden Schönheit der Wasserfrauen, die den Fuß des Watzmann umgaukeln. Dann wieder gleiten ein paar Menschenkinder, bequem im Boote lehnend, über die Fluth und rechnen an der Hand ihres rothgebundenen Reisebuches dem See seine Tiefe, den Bergen ihre Höhe nach, daß die Tausende von Metern wie kleine Rechengroschen umherfliegen. Und auch solche Touristen sind mir begegnet, deren Einbildung nichts so sehr beschäftigte, wie der bevorstehende Genuß der Saiblinge aus den Fischkästen des Försters von Bartholomä.

So läßt jeder in seiner Weise die Natur auf sich Wirken, die Wenigsten aber fragen sich, worin denn nun eigentlich die Individualität des Königssees bestehe. Und gerade dieser See hat mehr als jeder andere, den ich kenne, seine ausgeprochene Individualität, die zugleich seinen vornehmsten Reiz bildet; daß er nur einen einzigen Zugang besitzt und, wo er aufhört, kein Reiseziel, keine Ausfahrt in die Welt bietet, daß er nicht eine Passage ist, sondern um seiner selbst wegen gesehen sein will, das ist seine Specialität. Er ist im wahrsten Sinne ein stolzer See. Und er hat deßhalb auch sein eigenes Wetter. Wenn der Wind aus dem See herauskommt, sagen die Leute, so ist gute Zeit; umgekehrt, wenn die Wolken von Reichenhall hereinziehen, kommt Sturm und Regen.

Herbsttage am Königssee – anfangs waren sie mild und weich, man nahm sie nur an dem raschelnden Laub, an den tieferen Farben des Wassers, an der lebhafteren Bewegung unter den leichtfüßigen Gemsen wahr. Dann aber kam der Wind und pfiff in kurzen Stößen aus dem See daher, die Nebel wurden dichter, und noch tiefer in den Wasserspiegel gesenkt schien das weiße Schlößlein von Sankt Bartholomä. Und eines Morgens waren die Berge allesammt, vom Hohen Göll bis zum Watzmann, fast bis an den Rand des Wassers herab von einer leichten Schneedecke umhüllt. Das war das Zeichen zum Aufbruch. Ach, er ist mir trotzdem schwer geworden. Mir war’s, als ob ich von einem stolzen Menschenkinde schiede, dem sich nach langem Warten das Herz für mich geöffnet. Bald rückt der Schienenstrang diesem Einsiedler unter den Seen näher an den Leib, dann wird ein Stück seiner einsamen Herrlichkeit dahin sein. Modische Gasthäuser und Pensionen werden sich an ihn herandrängen, Komfort und Glanz werden ihn umgeben und vielleicht – ach, leider vielleicht – wird auch ein Dampfschiff ihn durchfurchen. Es ist kein Flüchten vor der Kultur; sie klettert über die steilsten Berge und was sie erfaßt, dem verwandelt sie die Physiognomie, zum Guten oder zum Schlimmen. Ade, du wundersam entlegener Erdenfleck, und wehre dich herzhaft gegen die Pfadfinder, auf daß du nicht entstellt bist:

     „Wann i komm’, wann i komm’, wann i wiederum komm’.“


Blätter und Blüthen.


Der photographische Hut. Das photographische Trockenverfahren, welches den Photographen von der Nähe einer chemischen Hexenküche unabhängig macht, ferner die Erfindung der mit einer lichtempfindlichen Bromgelatine-Schicht überzogenen Papptafeln, die dereinst vielleicht die theuren und schweren Glasplatten verdrängen werden, endlich die vielen Apparate zu schnellen Aufnahmen in Gestalt von Opernguckern, Gewehren und Pistolen – alle diese Momente haben der touristischen Photographie, wie wir sie nennen möchten, einen ungeheuren Aufschwung gegeben. Es vermögen jetzt Reisende, Künstler,

Berichterstatter, Gelehrte und Militärs ohne weitere Vorkenntnisse und ohne sonderliche Mühe die interessanten Gegenstände, die sich ihnen auf ihren Wanderungen darbieten, sofort photographisch zu fixiren. Die lichtbeschienenen Platten nehmen sie mit noch Hause, und sie lassen dieselben alsdann von einem geübten Photographen in Ruhe entwickeln, bezw. vergrößern, falls sie es nicht vorziehen, das Geschäft höchsteigenhändig zu besorgen.

Den Bedürfnissen des touristischen Photographen kommt der vorstehend abgebildete, von dem Belgier J. de Neck erfundene photographische Hut noch mehr entgegen, als die oben erwähnten vervollkommneten Apparate. Derselbe besteht, wie ersichtlich, aus einem gewöhnlichen Filzhut, welcher einen Miniaturapparat zu photographischen Aufnahmen in seinem oberen Theile birgt. Die Linse des Apparats liegt der kleinen Oeffnung H. gerade gegenüber, die nichts Auffälliges hat, da man an Hüten vielfach ein Luftloch anbringt.

Ebenso wenig auffällig ist die Schnur C, mit welcher der Tourist den Verschluß des Apparates nach erfolgter Aufnahme bewirkt, und die vorn an der Krempe angeordnete Lorgnette L, deren Glas bis auf das Mittelquadrat B geschwärzt ist, und welche den auf die Platten festgebannten Gegenstand angiebt.

Sehr schöne Bilder wird man freilich mit diesem Apparate nicht erhalten; doch dürften sie nicht allzu hohen Ansprüchen genügen. Die Aufnahmen sollen ja nur gewissermaßen das Skizzenbuch ersetzen. G. van Muyden.     


Venetianisches Ständchen. (Mit Illustration S. 756 und 757.) O Venedig, alte Märchenstadt im Meere, welcher Zauber kommt dem deinen gleich! Auch jetzt noch mit deinen zerbröckelten Palästen, deinen verschlammten Kanälen und verödeten Plätzen schlingst du ein magisches Band um die Seele, enthronte Beherrscherin der Fluthen! Wie erst in jenen Tagen, wo deine großen Söhne dich mit verschwenderischem halb orientalischem Luxus schmückten, wo auf den Kanälen und Lagunen in reichvergoldeten Gondeln die glänzendste Gesellschaft der Erde sich bewegte, wo dein Hafen noch von Masten starrte, deine Piazza von Masken wimmelte, wo deine stolzen Gallionen alle Gewässer durchkreuzten, sich die fernsten Gestade unterwarfen, um heimgekehrt dich mit neuer, noch fremdartigerer Pracht zu überschütten!

In jene Zeiten deiner Herrlichkeit versetzt nun der Meister, dem es wie Wenigen gegeben war, uns durch die Gluth seiner Farben den märchenhaften Zauber solch sinnverwirrenden Prunkes vorzuführen. – Segelfertig liegen im Hafen die Prachtgaleeren, welche die „Serenissima“ ausgerüstet hat, um einen edeln Patricier mit allem Pomp, der seiner hohen Stellung gebührt, als Statthalter auf die ionischen Inseln zu entsenden. Schon ist die Familie an Bord, die Verwandten und nächsten Freunde den Hauses, welche den Damen bis zum Schiffe das Geleit gegeben haben, sind in ihren Gondeln heimgekehrt; vor den Blicken der Scheidenden geht wie das Meer die Zukunft reich an Wundern auf. Schon mischt sich mit der Wehmuth des Abschieds das Vorgefühl der Triumphe, die ihrer harren, des fürstlichen Empfanges, der dort bereitet ist, der Feste, wo sie wie Königinnen herrschen werden durch ihre Schönheit, ihren Rang und vor Allem durch jene eigene unnachahmliche Grazie, die der Venetianerin

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 771. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_771.jpg&oldid=- (Version vom 24.2.2023)