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Textdaten
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Autor: J. D. H. Temme
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Titel: Der Zeuge
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 23–26, S. 353–356; 369–372; 385–388; 401–407
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[353]
Der Zeuge.
Von J. D. H. Temme.


1. Ein eifersüchtiger Ehemann.

„Es giebt viele unglückliche Herzen,“ sagte die schöne Frau.

„Geschöpfe, liebe Emilie,“ unterbrach sie ein kleiner dicker Herr, der Gemahl der schönen Frau.

Sie blickte unwillkürlich auf seine wohlgenährte Gestalt und ein Lächeln wollte spöttisch über ihre schönen Lippen gleiten; es wurde schmerzlich. „Nicht jedes Geschöpf fühlt,“ sagte sie, „aber jedes Herz und besonders den –“

„Den Schmerz, wolltest Du sagen, Emchen,“ lachte der kleine Herr. „Es hätte sich gereimt, aber richtig wäre es doch kaum in allen Fällen gewesen, mein Engel.“

„Wir wollen darüber nicht streiten, Arthur,“ erwiderte die Frau. Der kleine dicke Herr hieß Arthur. Die Frau wandte sich wieder an den Domherrn, zu dem sie die Worte gesprochen hatte: „Es giebt viele unglückliche Herzen.“ „Aber wie wenige,“ sagte sie jetzt, „wissen ihr Unglück zu tragen!“

„Wie viele müssen es dennoch tragen!“ sprach der Domherr.

„Dann sind sie nicht mehr unglücklich.“

„Auch jenes arme Herz nicht, von dem unser Gespräch ausging?“

Der Domherr zeigte auf eine schöne, blasse junge Frau. Sie saßen Alle unter einer geräumigen Veranda. Der Domherr, die schöne Frau, mit welcher er sprach, und ihr Mann hatten einen kleinen Tisch in der Mitte eingenommen. Entfernter von ihnen saßen andere Gäste des Hotels. Ganz hinten in einem Winkel war die schöne, blasse junge Frau, auf die der Domherr gezeigt hatte. Die Dame, mit welcher der Domherr sich unterhielt, war nicht mehr jung, sie konnte stark über die Mitte der dreißiger Jahre hinaus sein. Um so frischer hatte ihre Schönheit sich erhalten. Auch der Domherr war kein junger Mann mehr; er hatte die vierziger Jahre sicherlich angetreten. Der kleine, dicke Gemahl der Dame – bei ihm kam es wohl auf das Alter gar nicht an – sah frisch und blühend aus, denn von tiefen Auf- und Erregungen wußte er ja nichts.

Die Veranda befand sich zur Seite des großen, eleganten Gasthofes, der eine reizende Lage an dem Abhänge eines Hügels hatte. Von der Veranda aus genoß man einer wundervollen Aussicht über ein weites Thal, über einen klaren, breiten Fluß, der es durchströmte, über Dörfer und Landhäuser an seinen Ufern, in die waldigen und zackigen Berge jenseits des Thales, und auf die Dörfer und Landhäuser, die auch an und auf ihnen angebaut waren. Ganz hinten links auf einem hohen Felsenvorsprung des Gebirges lag eine Festung.

In das Thal, über den Strom, der es durchschnitt, auf die Berge jenseits waren die Blicke der blassen jungen Frau gerichtet. Da hinten auf den Mauern und Zinnen und Thürmen der Bergveste blieben die Augen haften, welche trüber und trüber wurden, je länger sie dahin blickten, und die zuletzt nichts mehr sahen, als die hohen Mauern, die kantigen Zinnen, die spitzen Thürme.

Sie war so schön, die blasse Frau mit den prächtigen, dunklen Augen, aus denen die Thränen sich hervordrängen wollten und nicht durften; sie war so schön mit ihrem Schmerz zwischen dem rothen Flieder und dem bunten Geisblatt, die das Geländer der Veranda durchzogen.

Plötzlich fuhr sie erschreckt auf. Ein junger, hübscher Officier war in den Raum eingetreten, hatte sie bemerkt, und war im Begriffe, auf sie zuzuschreiten. Wie sie sich von ihm abwenden wollte, sah sie einen zweiten Mann ihm folgen; vor ihm war sie erschrocken. Er war ein Mann in der Mitte der dreißiger Jahre, groß, wohlgewachsen, die Gesichtszüge regelmäßig, aber die Miene finster, der Blick der großen, schwarzen Augen unheimlich lauernd und stechend, die Farbe des Gesichtes grau. Er hatte die blasse Frau gesehen, wie sie plötzlich ihn erblickte und zusammenfuhr, wie sie in demselben Moment von dem Officier sich abwandte; er hatte gesehen, wie der Officier sich ihr nahen wollte. Er biß die schmalen grauen Lippen zusammen und in den dunklen Augen zuckte ein wildes Feuer auf, welches die tief und dicht herunterhängenden schwarzen Augenbrauen nur halb verbargen. Er schritt langsam, gemessen auf die Frau zu. Er wollte vor den Anwesenden ganz verbergen, was in seinem Innern vorging; er hatte dazu vollständig die Gewalt über sich. Allen konnte er es dennoch aber nicht verbergen.

„O,“ sagte die schöne frische Frau zu dem Domherrn, „o, sie ist doch ein armes, unglückliches Herz.“

„Ja, das ist sie,“ erwiderte der Domherr.

„Und was wird daraus werden?“

„Das Ende aller Dinge.“

„Der Tod?“

„Kann sie leben?“

„Ja. Muß nicht –“

Die schöne Frau sah sich nach ihrem Manne um, der zur Seite gegangen war.

„Muß nicht so manches Herz leben?“ sagte sie dann, aber leise, und durch die frischen Rosen ihrer Wangen zuckte ein schmerzliches Lächeln.

[354] Der Domherr fuhr schweigend mit der Hand über die Stirn, und es war ein trüber Blick, mit dem er auf das geistliche Kreuz auf seiner Brust hinuntersah.

Der kleine, dicke Herr kam zurück. Er war ein neugieriger Herr. „Hast Du unseren Reisegefährten gesehen, Emchen?“

„Er geht dort.“

„Zu seiner Frau! Na, an deren Stelle möchte ich auch nicht sein. Der ist ja ein wahrer Despot, Tyrann der Eifersucht. Sahest Du seine Blicke – nein, die Blitze seiner Augen?“

Der kleine Herr lachte über das Wortspiel oder den Witz, den er gemacht haben wollte. Er erhielt keine Antwort und hatte auch wohl auf keine gerechnet. Er fuhr fort: „Und die Frau hatte nicht einmal nach dem Lieutenant hingeblickt. Und was hätte sie auch an ihm zu sehen gehabt? Seine Uniform? Sie ist das einzige Hübsche an ihm. Ja, liebes Emchen, Du mußt es zugestehen, Ihr Frauen seht die Officiere gern; doch ohne die Uniform – du lieber Himmel, was sähet Ihr an den Herren! Aber ich meine das nicht von Dir, liebes Emchen, Du bist eine ganz andere Frau, als die anderen, und sodann, ich bin Gott Lob nichts weniger als eifersüchtig, das mußt Du zugeben.“

Er erhielt wieder keine Antwort; er hatte auch wieder auf keine gerechnet. Was soll auch eine Frau antworten auf die Frage des Mannes, ob er eifersüchtig sei? Er wandte sich an den Domherrn.

„Aber wer mag der Mensch nur sein, Herr Domherr? Haben Sie gar keine Ahnung davon?“

„Lieber Herr Milden,“ sagte der Domherr, „wir haben ihn Beide gestern zum ersten Male gesehen. Er schloß sich an mich nicht näher an, als an Sie. Ich kenne ihn nicht mehr, als Sie ihn kennen.“

„Ja, ja, Herr Domherr. Aber auch wir haben uns erst seit wenigen Tagen gesehen, und Jeder von uns weiß doch schon, wer der Andere ist.“

„Wir sind mittheilsame Naturen, Herr Milden. Jenes Mannes finsteres, verschlossenes Wesen kann sich wohl an keinen Menschen anschließen.“

„Er möchte ihn denn verderben wollen,“ sagte die Frau Milden. „Muß nicht das Herz der armen Frau in solchen Händen brechen? Wie waren wir ihr ein Rettungsanker, als der Zufall sie gestern mit uns zusammenführte! Mit welcher Angst lauschte sie der Entscheidung des Mannes, ob sie gemeinschaftlich mit uns die Reise fortsetzen würden! Er mußte, denn sie war erschöpft von dem Bergsteigen; zu Fuße konnte sie nicht weiter und einen Wagen hatten sie nicht bei sich. Wir boten ihnen einen Platz in dem unsrigen an. Er konnte, er durfte es nicht ausschlagen. Wie war sie glücklich, nicht mehr mir ihm allein sein zu müssen!“

„Wie liebenswürdig,“ sagte Herr Milden, „nahmst Du auch Dich ihrer an! Du wußtest den finsteren Mann zu halten, der gern schon in der nächsten Stunde die drückende Fessel, die unsere Gesellschaft seiner Tyrannei auslegte, von sich geworfen hätte.“

„Und,“ fuhr die Frau fort, „sie ist ein edles Herz. Mit keiner Sylbe, mit keiner Miene hat sie mir das Leid ihrer Brust geklagt. Nicht das leiseste Wort eines Vorwurfs gegen ihren Mann ist über ihre Lippen gekommen. Und ich war allein mit ihr; sie war vertrauungsvoll gegen mich, wie eine Tochter gegen ihre Mutter.“

„Du wärst nur etwa ihre ältere Schwester, Emchen,“ sagte galant Herr Milden. Dann wurde er ernst. „Aber wahrhaftig, ich fürchte. Du hast Recht, Emilie. Der Mensch ruinirt die arme Frau, nur nicht in der Art, wie Du es meintest. Mich überfällt ordentlich eine Angst, wenn ich ihn mir so recht ansehe und mir ihn dann mit der Frau allein denke. Ich meine, ich sehe einen Mörder und sein Schlachtopfer.“

„Milden!“ verwies ihn die Frau.

„Was willst Du, Emilie?“ fuhr er eifrig fort, „sieh ihn Dir einmal an. Sieh sie Beide an, wie sie schon vor allen den Leuten dasitzen. Sind das nicht tödtende Blicke, die seine großen, unheimlichen Augen auf die Arme werfen? Droht er ihr nicht jetzt schon Vernichtung? Und sie wagt nicht, zu ihm aufzublicken. Sie zittert, sie ist blaß, schon blaß wie der Tod. Doch halt, da sieht sie zu ihm auf, aber bittend, flehend, als wenn sie ihn um das Leben bitte, daß er sie doch nur hier vor den Leuten nicht tödten möge; nachher wolle sie ja gern sterben, wenn es sein müsse, so jung sie auch noch sei; es sei ja doch am Ende besser, jung zu sterben, als länger ein solches Leben zu führen. Ach, Emilie –!“

Herr Milden war plötzlich aufgefahren. Er schien eine dringende Aufforderung an seine Frau aussprechen zu wollen, wurde aber darin unterbrochen. Es war ein gutmüthiger Herr, der Herr Milden, daher aber auch ein Mann, der aller Welt gern hätte helfen mögen und deshalb freilich niemals recht zum Helfen kam.

„Tante,“ sagte auf einmal eine allerliebste Mädchenstimme in einem halb weinenden Tone, „der Gustav ist unausstehlich, er ist wieder eifersüchtig.“

„Was?“ fuhr Herr Milden auf, „Junge, Du unterstehst Dich? Auch Du? Sieh dahin! Nimm Dir ein Exempel daran.“

Es war nicht jenes Auffahren des kleinen dicken Herrn, mit dem er weiter zu seiner Frau hatte sprechen wollen; darin war er durch dieses zweite gestört worden.

Ein junges Paar war in die Veranda, an den runden Tisch getreten. Ein allerliebstes, frisches Mädchen, halb sanfte Taube, halb großer Schelm. Ein hübscher, frischer junger Mann, der aber in diesem Augenblicke nicht halb, sondern ganz sauertöpfisch aussah und dadurch seine anderen guten oder bösen Eigenschaften im Verborgenen ließ. Schon nach dieser Sauertöpfigkeit auf der einen und jener Schelmerei auf der anderen Seite mußten die Beiden Brautleute sein. Der junge Mann wollte auf die Worte, mit denen Herr Milden ihn anließ, etwas erwidern. Er kam nicht dazu, wie Frau Milden zu keiner Antwort auf die Worte des Mädchens gekommen war.

„Schweig Du!“ wurde er noch einmal angefahren, diesmal von dem jungen Mädchen. „Ich will der Tante erzählen, denn Du würdest wieder Alles verdrehen.“

Er schwieg gehorsam. Die Beiden waren sicher Brautleute.

Zu der Tante fuhr das junge Mädchen fort: „Siehst Du den reizenden Studenten da, Tante?“

Da konnte der junge Mann doch schon nicht mehr schweigen.

„Aber das ist doch zu arg, Ida!“

Das Mädchen aber sagte: „Tante, brauche ich Dir nun noch ein Wort zu erzählen? Ich darf einen Studenten nicht einmal mehr reizend finden? Bin ich nicht das unglücklichste Geschöpf von der Welt?“

Dabei weinte sie – keine Thränen, aber mit ihren klarsten Augen, die nicht schelmischer lachen konnten. Die Tante konnte nochmals nicht zum Antworten kommen. Der junge Mann war zornig geworden, daß er sich die Haare hätte ausreißen mögen. Herr Milden nahm ihn sehr ernst vor, strenge, wenn der brave Mann hätte strenge sein können.

„Gustav, Gustav, das ist nicht die Art und Weise, wie man sich benehmen, wie ein Bräutigam seine Braut behandeln muß. Brautleute müssen vor Allem verträglich sein, und der Bräutigam muß immer bedenken, daß er der stärkere Theil ist, also großmüthig sein und nachgeben muß. Und was nun sogar die Eifersucht betrifft, diese nichtswürdige Leidenschaft, dieses abscheuliche Laster –“

„Ach!“ rief die weinende Braut, „siehst Du, Gustav, daß Du ein abscheulicher Mensch bist? So recht, lieber Onkel, bringen Sie ihm Vernunft bei, treiben Sie ihm den Teufel seiner Eifersucht aus, machen –“

Herr Milden hielt sich die Ohren zu, er wußte nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Er sah sich nach Hülfe um. Sein Auge fiel mechanisch auf den finsteren, unheimlichen Mann, den er dem Neffen als ein abschreckendes Exempel hatte zeigen wollen. Da fiel ihm auch mechanisch das damals unmittelbar Vorhergegangene ein, als er seine Frau um etwas hatte bitten wollen.

„Alle Tausend!“ rief er. „Der Mensch sieht wahrhaftig aus wie ein Unglück! Und die arme Frau – sie muß Hülfe haben. Wir müssen sie ihr bringen. Hin zu ihnen!“ Dann zögerte er doch. „Aber was soll man ihm sagen? Sie sind Mann und Frau! Was hat ein Dritter zwischen ihnen zu schaffen? Und doch, die arme Frau jammert mich, und den Menschen muß man vor einem Verbrechen bewahren.“

„Gehen wir zu ihnen,“ sagte Frau Milden zu ihrem Mann, indem sie aufgestanden war. „Zuerst nur wir Zwei. Sie, Herr Domherr, folgen uns nach einer Weile? Mit dem Brautpaar da, wenn es ausgeschmollt hat?“

Der Domherr verbeugte sich bejahend. Die schöne Frau nahm den Arm ihres Gatten.

[355] „Ah, ah, Emilie,“ sagte Herr Milden vergnügt, „ich wußte, daß Dein feiner Verstand das Richtige finden würde. Ich konnte es nicht. Mein Emchen ist eine ausgezeichnete Frau! Ausgezeichnet durch ihre Schönheit, durch ihr Herz, durch ihren Verstand. Wie stolz bin ich auf Dich! Was wirst Du ihnen sagen, Emilie?“

„Ich werde es ja sehen,“ antwortete die Frau mit einem Seufzer. Aber sie seufzte leise; der Mann, der so stolz auf sie war, hörte es nicht.

Sie gingen zu dem Winkel der Veranda, in dem die blasse junge Frau allein gesessen und mit den schönen dunklen Augen so traurig durch den rothen Flieder und das bunte Geisblatt nach den Bergen jenseits des Thales und nach den Mauern und Zinnen und Thürmen der fernen Bergfestung geblickt hatte.

In dem Winkel hatte sich unterdeß Folgendes begeben. Die blasse Frau war tief erschrocken, als auf einmal ihr Blick dem ihres Mannes begegnet war. Der Mann war mit seinem finsteren, unheimlichen Gesichte zu ihr geschritten.

„Warum hast Du Dich in diesen Winkel zurückgezogen?“

„Es ist hier so heimlich still und einsam,“ erwiderte die Frau schüchtern.

„Still, einsam! Warum suchst Du immer die Einsamkeit auf?“

„Ich liebe nun einmal das laute Geräusch nicht.“

„Und warum liebst Du es nicht?“

„Ich habe es nie geliebt.“

„Ich will Dir sagen, warum Du die Einsamkeit aufsuchst, Dich vor den Menschen zurückziehst, sie fliehest. Du fühlst Dich unglücklich, Du bist unglücklich bei mir, und Du willst den Leuten zeigen, daß Du es bist.“

„Emil, warum immer diese ungerechten Vorwürfe?“

„Vorwürfe? Ja, ja, jedes Wort, das ich zu Dir spreche, ist in Deinen Augen ein Vorwurf, eine Ungerechtigkeit. Mit Allem, was ich thue, bist Du unzufrieden. Nichts kann ich Dir recht machen! Aber Du liebst mich nicht!“

„Emil, drehest Du nicht geradezu Thatsachen und Verhältnisse um?“

„Auch das noch! Ich liebe Dich also wohl nicht? Und Du liebst mich!“

Er sprach immer hart, mit finsterer Stirn, die dichten schwarzen Augenbrauen über dem drohenden Blick der Augen zusammengezogen. Die Frau hatte mit ihrer sanften, weichen Stimme nur bittend gesprochen. Nicht der leiseste Ton eines Vorwurfes war über ihre Lippen gekommen. Seine letzten Worte schienen doch in ihrem Innern das Bewußtsein der Würde der Frau geweckt zu haben.

„Emil,“ sagte sie mit ruhiger und sicherer Stimme, „zeigen die immerwährenden Vorwürfe, die Du nur für mich hast, eine Liebe Deines Herzens zu mir? Und habe ich Dir je ein anderes Gefühl gezeigt, als das der treuesten und hingebendsten Zuneigung der Gattin?“

„Ha, da warst Du aufrichtig!“ fuhr der finstere Mann auf. „Das Wort Liebe, Deiner Liebe, wagtest Du nicht auszusprechen. Zuneigung! Zuneigung –“ Er war laut geworden.

„Laß uns das Gespräch abbrechen,“ bat ihn die Frau. „Man sieht auf uns.“

Der Mann bemerkte es. Er zog die Brauen tiefer über die zornigen Augen. Noch ein paar Worte mußte er leise sprechen: „Ja, man sieht auf uns! Du wirst mich zum Gespötte der Menschen machen. In meiner Stellung!“

Die Frau antwortete nicht. Sie wandte das blasse Gesicht zur Seite, damit die Menschen in der Veranda es nicht mehr beobachten sollten, nach den Blüthen des Flieders, des Geisblattes. Auch der Mann schwieg. Auch er sah durch das Geländer der Veranda. Aber nicht zu den bunten Blumen; sein finsterer, unruhiger Blick mußte weiter schweifen, in das Thal zu den Füßen des Hügels, über den Strom, der es durchschnitt, auf die Berge jenseits, in die Ferne. Plötzlich zuckte er heftig auf. „Ha!“ rief er. Seine Augen starrten nach einem Punkte, hinten links in die Ferne hinein, nach dem Felsenvorsprung des Gebirges, nach den Mauern und Zinnen und Thürmen der Festung darauf. Eine dunkle Röthe zog sich durch sein fahles Gesicht; dann war es von tiefer Blässe bedeckt. Er sah sich um nach der Gesellschaft in der Veranda, ob er beobachtet werde. Er sah die Blicke nicht mehr auf sich gerichtet, wandte sich zu der Frau und sprach mit gedämpfter, bebender Stimme:

„Ha, darum hattest Du diesen heimlich stillen und einsamen Platz ausgesucht! Dorthin, dorthin konnten in diesem verborgener Winkel Deine Augen unbeachtet und ungestört Deine Gedanken und Dein Herz tragen, und dorthin auch Deine Liebe, die Liebe, die Du dem Gatten entziehst, für den Du nur kalte, ergebene Zuneigung hast. Zuneigung noch? Bin ich Dir nicht sein Mörder? Ja, ja, ich bin es. Denn er ist ein Todter! Und er wird es bleiben, für Dich, für alle Welt. Deine Wünsche, Deine Thränen, Deine Gebete, sie werden ihn nicht wieder unter die Lebenden bringen; nie! Harre nicht vergebens darauf. Er bleibt dort in seinem Grabe. Auch die Pforten dieses Grabes werden sich nicht öffnen; er wird sie nicht sprengen. Ich schwöre es Dir. Und nun fort von hier! Woran hatte ich gedacht, als ich mich hierher verlocken ließ? Ich Thor! Fort! Keinen Augenblick länger hier! – Doch, noch drei Minuten, damit ich, damit Du Dich sammeln kannst, damit wir, damit ich nicht doch noch zum Gespött der Welt werde. Ich wäre verloren. Uns kennt zwar Niemand hier. Aber man würde nach uns fragen, man würde meinen Namen erfahren –“

Er schwieg und starrte in stiller Wuth vor sich hin. Die Frau hatte sich nicht erst sammeln müssen. Sie hatte mit dem Bewußtsein ihres reinen Herzens, mit der Größe ihrer edlen Seele ruhig die Vorwürfe des finsteren, leidenschaftlichen, wild leidenschaftlichen Mannes anhören können. Aber erwidern mußte sie ihm etwas darauf, und wenn es auch mehr war, als sie gern sprach. Eben ihr reines Herz, ihre edle Seele forderten es.

„Emil,“ sagte sie eben so würdig, wie sie ruhig war, „Niemand hat Dich hierher gelockt, am allerwenigsten ich. Du kannst die Veranlassung und den Zweck unserer Reise nicht vergessen haben Ich kränkelte schon seit längerer Zeit, Du bedurftest des Ausruhens von mühvoller und angreifender Arbeit. So sollte die Zerstreuung einer kleinen Erholungsreise in das schöne Gebirge uns Beiden zu Gute kommen. Du schlugst die Reise vor; ich war Dir dankbar dafür, was meinen Theil anging. Ich dachte auch, das Herausreißen aus Deinen Arbeiten, der Verkehr mit anderen Menschen, das Einathmen der frischen Luft, die Schönheiten der Natur, das Alles würde Dich frischer und heiterer stimmen und freundlicher und liebevoller gegen mich. So reisten wir und kamen hierher, ohne mein Zuthun. Ich folgte lediglich Dir. Ob Du zu dem Punkte, auf dem wir uns gerade in diesem Augenblicke befinden, jener Familie, mit der wir gestern zusammentrafen, und der auch ich mich gern anschloß, gefolgt bist, das weiß ich nicht. Ich habe mich nicht darum gekümmert. Ich folgte nur Dir. Damit wäre die eine falsche Beschuldigung abgemacht, die Du auf mich werfen wolltest. Was dann den Vorwurf betrifft, daß ich einen Mörder in Dir sähe, so ist davon kein Gedanke in meine Seele und kein Wort über meine Lippen gekommen. Es konnte auch nicht anders sein. Ich habe kein Urtheil über das, was Du zu thun oder nicht zu thun hast; Deine Pflicht und Dein Gewissen sind darüber Deine einzigen Richter. Wenn Du mir endlich vorwirfst, daß ich den Wunsch hätte, jenes Grab möge sich öffnen, – ja, Emil, den Wunsch habe ich; ich habe ihn als Christin, ich habe ihn in meinem Herzen, das Mitleid mit jedem leidenden Menschen fühlt, ich habe ihn selbst für Dich, denn das meine ich, daß Deine Pflicht, sei sie eine noch so streng gebotene, Dir eine schwere, drückendn sein müsse. – Und nun bin ich bereit, mit Dir zu gehen. Dir zu folgen, wohin Du auch jetzt wieder mich führen wirst. Gehen wir, Du siehst, ich bin vollkommen ruhig.“

Sie war es, aber sie gingen dennoch nicht. Der finstere Mann war desto unruhiger geworden. Ihre Worte, ihre Ruhe, ihre Würde hatten die Gluth in seinem Innern doppelt angefacht. Er war in großer Aufregung, und mußte alle seine Kraft aufbieten, um sie vor den Anwesenden zu verbergen. Er hätte sich nicht erheben können, ohne sie durch jede seiner Mienen zu verrathen. Er konnte sie dennoch nicht ganz verbergen. Er warf tödtlich feindliche Blicke auf seine Frau; die tödtlichen Blicke flogen in der Veranda umher, ob man sie beobachte, ob man sie sehe.

Einen dieser Blicke hatte Herr Milden bemerkt. Der gutmüthige kleine dicke Herr hatte sich heftig erschreckt. Er hatte seine Frau nach dem Winkel, zu den beiden unglücklichen Ehegatten gezogen und kam mit ihr bei diesen an.

„Ah, ah!“ begann Herr Milden.

Er hatte nicht gewußt, was er den Beiden sagen solle. Seine Frau hatte ihn deshalb begleiten müssen, damit sie spreche. Er [356] war dennoch sofort und der Erste mit seinen Worten da. Die schöne Frau Emilie hatte noch keine; der Anblick der blassen, unglücklichen Frau schnürte ihr wohl das Herz zu, rief so manche andern Gefühle und Gedanken in ihr wach.

„Ah, ah, verehrter Herr Reisegefährte, Sie haben ja hier ein reizendes Plätzchen gewählt – die schönste Aussicht in die herrliche Gegend.“

„O ja, es ist hier schön,“ sagte der finstere Reisegefährte kalt, sich sammelnd.

„Und da darf ich Ihnen ja wohl einen Vorschlag machen, Herr Reisegefährte, oder vielmehr geradezu eine Bitte an Sie richten. Wir beabsichtigen, zum Abend eine Partie nach dem Weißen Steine drüben zu machen. Man hat dort eine der schönsten Aussichten der Gegend, und da oben die Sonne untergehen zu sehen – ich versichere Sie, es giebt keinen köstlichern Genuß. Ich war schon mehrere Male zum Sonnenuntergang oben. Ja, und da wollten wir Sie und Ihre Frau Gemahlin nun bitten, die Partie gemeinschaftlich mit uns zu machen. Für einen Wagen habe ich schon gesorgt. Es ist ein großer Leiterwagen, wie man sie hier zu solchen Fahrten hat, und wir haben Alle Platz darauf. In einer starken halben Stunde fahren wir ab. Nicht wahr, Sie machen uns die Freude?“

Man sah dem finstern Manne an, wie ihm der Vorschlag ungelegen kam, er suchte nach passenden Worten, ihn abzulehnen.

„Von unserer Seite,“ sagte schnell, um der Ablehnung zuvorzukommen, Herr Milden, „fährt Niemand mit, als meine Frau und ich, der Domherr und mein Neffe mit seiner Braut, also nur unsere alte Reisegesellschaft, die Sie schon kennen.“

Der kleine Herr sagte es so gutmüthig, und es war doch ein so scharfer Stich in die Brust des finsteren Mannes, der so empfindlich gegen das Urtheil der Leute über sich war, der selbst in heftigen Ausbrüchen seiner Leidenschaft darauf bedacht blieb, seiner Stellung nichts zu vergeben; er durfte nicht zeigen, wie er getroffen war, wie sehr er sich getroffen fühlte. Die schöne Frau des Herrn Milden war vor Verlegenheit roth geworden, und doch war ihr Mann ein so feiner Psycholog gewesen, freilich wie das blinde Huhn, das auch wohl zuweilen ein Körnchen findet.

„Es wird mir ein Vergnügen sein,“ antwortete der finstere Mann, „vorausgesetzt, daß auch meine Frau einverstanden ist; sie ist heute so besonders leidend. – Was meinst Du, liebe Julie?“

Die beiden Frauen waren sich nur mit einem einzigen Blicke begegnet. Sie hatten sich verstanden. Frauen wissen in ihre Blicke ihr ganzes Herz zu legen, und Herzen, die nicht glücklich sind, verstehen sich auf den ersten Blick der Augen.

„Ah, gnädige Frau,“ rief der kleine Herr galant, „Ihre schönen Lippen werden mir doch keinen Korb geben?“

„Da die Partie meinem Manne Vergnügen macht,“ antwortete die blasse Frau, „so wird es mir eine doppelte Freude sein, den Abend in Ihrer lieben Gesellschaft zubringen zu können.“

„Vortrefflich! Herrlich!“ klatschte Herr Milden in seine runden Hände. „Machen wir uns gleich zur Abreise fertig, damit wir die beste Zeit nicht verpassen. Das wird ein reizender Abend werden. Komm, Emilie. Auf Wiedersehen, gnädige Frau! A revoir, Herr Reisegefährte!“

Sie wollten sich trennen. Die Frau des kleinen Herrn, die das Wort hatte führen sollen, hatte dazu nicht kommen können.

Sie sollte doch noch sprechen müssen. Hinten im Gebirge, auf der andern Seite des Thales, fiel plötzlich ein Kanonenschuß.

„Ah, ah,“ rief der vergnügte Herr Milden, „das ist ja ein Freudenschuß zu unserer Lustfahrt.“

Er lachte wieder über seinen Einfall. Aber der finstere Mann stand erschrocken da, horchte gespannt in der Richtung, in welcher der Schuß gefallen war. Und die blasse Frau zitterte. Der Schuß war in der Gegend der Bergfestung gefallen. Ein zweiter Schuß fiel. Er kam aus der Festung; man hörte es deutlich. Er zog sich donnernd durch das Gebirge fort, verlor sich im Thale. Die ganze Gesellschaft der Veranda hatte ihm gelauscht, war dem Donner gefolgt.

„Ah, ah,“ sagte der kleine Herr, „in der Festung sitzen ja auch wohl Gefangene? Gar Staatsgefangene, wenn ich nicht irre?“

Er hatte sich an seinen finstern Reisegefährten gewandt, erhielt aber keine Antwort. Der finstere Mann hatte fest seine Lippen zusammengepreßt. Herr Milden sah es wohl nicht.

„Ja, ja,“ fuhr er vergnügter fort, „ich weiß es, und die beiden Kanonenschüsse zeigen an, daß ein Gefangener aus der Festung entwichen ist. Und – und – es ist noch ein zweiter entkommen. Hören Sie, da fällt der dritte Schuß!“

Ein dritter Schuß war gefallen. Der brave Herr Milden wurde immer vergnügter.

„Lassen Sie uns horchen, ob nicht ein vierter fällt. Sie wissen es doch, die zwei ersten Schüsse bedeuten einen Entsprungenen; für jeden weiter Entkommenen wird nur ein Schuß abgefeuert. Ah, aber der vierte fällt nicht. Es ist also nur Zweien geglückt, zu entkommen. Es ist schade, daß ihrer nicht mehr sind. Nun, stehe der liebe Gott den Beiden bei, daß sie nicht wieder eingefangen werden, daß sie ihren Verfolgern entrinnen. Die armen Menschen –“

Der kleine dicke Herr stockte. Er sah endlich die zusammengekniffenen Lippen seines Reisegefährten, sie waren fast blutig gepreßt, sah in den großen dunklen Augen des finstern Mannes einen furchtbaren Haß, einen tiefen Groll auflodern. Er wollte sich verwundern; er mußte sich entsetzen.

„Hm, hm, alle Tausend –!“ Er kam nicht zum Ende.

„Arme Unglückliche!“ hörte er leise seine Frau sprechen.

Er sah sich nach ihr um. Sie hielt in ihren Armen die ohnmächtige Frau des finsteren Mannes.

„Wasser!“ rief sie den beiden Männern zu.

Der finstere Mann ging; der kleine Herr war schon fortgerannt. Die Ohnmächtige kam wieder zu sich.

„Seien Sie stark, meine arme Freundin!“ flüsterte Frau Milden ihr zu.

„Beschützen Sie mich!“ flehte die Arme.

„Ich werde Ihre Mutter sein. Aber seien Sie stark, zeigen Sie keine Angst.“

Wie klar mußten die beiden Frauen die Lage erkannt, mit welcher Angst mußte die Erkenntniß ihre Herzen erfüllt haben!

Herr Milden kam mit einem Glase Wasser zurückgestürzt. Der finstere Mann folgte ihm mit gemessenem Schritt.

„Es ist schon vorüber,“ sagte Frau Milden zu den Männern.

„Ein plötzlicher Kanonenschuß kann stärkere Nerven erschüttern.“

„Und unsere Partie?“ fragte Herr Milden.

„Es bleibt bei ihr,“ erwiderte entschieden seine Frau. „Machen wir uns Alle fertig.“

Sie sagte es zu der blassen Frau, zu den beiden Männern, zu dem Domherrn, der eben mit dem Brautpaar ankam. Sie gingen Alle, sich zur Fahrt zu rüsten.

[369]
2. Ein eifersüchtiger Bräutigam.

Der geräumige und hübsche Leiterwagen hielt neben dem Hôtel, unterhalb der Veranda.

„Wie viele Personen können darin sitzen, Gustav?“ fragte die Braut ihren Bräutigam.

„Es sind vier Bänke darin, Ida. Auf jeder haben zwei Personen Platz. Es reicht also gerade für uns.“

„Wir sind aber unser nur sieben.“

„Du vergißt den Kutscher.“

„Pah, mag er sich auf seine Pferde setzen.“

„Es ist kein Sattelpferd da.“

„So setzt er sich vorn auf den Wagen, vor der ersten Bank.“

„Aber warum, Ida? Er hat ja Platz im Wagen.“

„Warum? Wie sollten wir denn sitzen?“

„Nun, wir Beiden sitzen auf einer Bank beisammen.“

„Dachtest Du zuerst an Dich, oder erwiesest Du mir die Ehre? Aber weiter!“

„Den finstern Herrn darf man nicht von seiner Frau trennen.“

„Ah, Gustav, da dachtest Du an Dich!“

„In wiefern?“

„Du bist eifersüchtig und der finstere Herr ist es – Ihr streitet Euch darum, wer es am meisten ist –“

„Ida!“

„Weiter! Der Onkel und die Tante sind noch da, und der Domherr. Wie werden sie sitzen?“

„Hm, Ida –“

„Ach, da bist Du wohl in Verlegenheit?“

„Ich?“

„Mit Deiner Eifersucht, Freund Gustav!“

„Aber, Ida, ich begreife Dich nicht!“

„Hm, mein Freund, die Tante ist meine Tante, und der Onkel ist Dein Onkel.“

„So ist es.“

„Aber sie haben uns nicht zusammengekuppelt.“

„Nein, Ida, unsere Herzen fanden sich in freier Wahl aus Liebe.“

„Hm –“

„Zweifelst Du daran, Ida?“

„Gott bewahre mich. Wenigstens nicht an unserer Freiheit. Meine Tante war sogar anfangs gegen uns. Aber weißt Du, warum, Gustav?“

„Sie hatte gemeint, der Onkel habe mir zugeredet.“

„Und was war dabei für sie der tiefere Grund?“

„Hm, Ida –“

„Höre, Gustav, wir wissen, oder vielmehr, wir ahnen, oder recht eigentlich, wir fühlen es Beide; denn wir haben von keinem Menschen ein Wort darüber gehört. Wir haben uns aber bisher Jeder gescheut, es dem Andern zu sagen, und das darum, weil die Tante meine Tante, und der Onkel Dein Onkel ist. Aber wir wollen Eheleute werden, Gustav!“

„Wären wir es schon, Ida!“

„So laß uns schon jetzt keine Geheimnisse, und vor Allem keine Heucheleien gegeneinander haben.“

„Wir wollen nicht, Ida.“

„Weißt Du, daß meine Tante eine der edelsten Frauen und Dein Onkel der bravste Mann von der Welt ist?“

„Gewiß weiß ich das, Ida, und ich weiß auch, wie Du das meinst.“

„So? Dann sprich Du von Deinem Onkel.“

„Sprich Du zuerst von der Tante.“

„Es sei. Ein junges, bildschönen Mädchen besaß Alles, was ein junges Mädchen und durch sie einen jungen Mann glücklich machen kann; denn sie hatte einen klaren, für alles Schöne und Gute empfänglichen Geist. Sie hatte das reinste, das unschuldigste Herz; Geist und Herz hatten eine seltene Bildung erhalten – aber sie war arm. Ein junger Mann, der in allen jenen Vorzügen und vortrefflichen Eigenschaften dem jungen Mädchen nicht nachstand, der aber gleichfalls arm war, lernte das junge Mädchen kennen; sie liebten einander, konnten aber kein Paar werden, weil sie Beide arm waren; um so inniger, um so herzlicher liebten sie sich. Mit einem Schmerze, der die jungen Herzen zu zerreißen, zu brechen, zu vernichten drohte, mußten sie sich trennen, aber von nun an liebten sie sich erst recht mit der reinsten, erhabensten und heiligsten Liebe der armen, starken und in ihrer Stärke so reichen Herzen, liebten sich für die Ewigkeit. Das junge Mädchen war meine Tante, der junge Mann war der Domherr. Sie entsagten und trennten sich. Achtzehn Jahre lang hatten sie nichts von einander gehört. Vor drei Tagen, auf dieser Reise, trafen sie sich zufällig wieder. Wir haben sie Beide seitdem Tag für Tag, Stunde für Stunde gesehen. Soll ich noch ein Wort hinzufügen?“

„Nein, Ida; kein Wort für Deine Tante.“

„Auch nicht für den Domherrn, Gustav? Er ist der Tante würdig geblieben.“

[370] „Auch für ihn nicht, Ida; aber für meinen braven Onkel. Er war der reichste junge Mann in der reichen Handelsstadt; er hatte von der Liebe Deiner Tante und des jungen armen Baron Eckardsberg gehört, und wie sie freiwillig sich getrennt hatten, und der junge Mann in fremde, ferne Kriegsdienste gegangen war, Deine Tante aber Unterricht gab, um sich und ihrer alten, kranken Mutter das Leben zu fristen. Da drängte es ihn, sie kennen zu lernen. Er suchte sie auf, lernte sie schätzen, hochachten, lieben. Er bot ihr seine Hand an und verlangte keine Liebe von ihr; er sagte es ihr, wie er wisse, daß ihr Herz einem Anderen gehöre. Sie wurden Eheleute und sind die liebevollsten Gatten geblieben bis auf den heutigen Tag. Mein Onkel ist zugleich in dem Besitze seiner Gattin der glücklichste Mann von der Welt, und Deine Tante hat die glücklichste, hat die wahre Ruhe des Herzens gefunden. Und dabei darf ich nicht verschweigen, wie sehr mein Onkel, was Verstand und Bildung betrifft, unter Deiner Tante steht; als er sich um ihre Hand bewarb, verstand er nicht viel mehr, als seine kaufmännische Correspondenz und die doppelte Buchhaltung. Er wußte es auch, wie sehr er unter ihr stand, und er ordnete sich ihr gern unter. Aber freilich, da muß ich doch für Deine Tante sprechen, nie hat sie sich über ihn gestellt.“

„Das ist brav von Dir, Gustav, daß Du das von der Tante anerkennst, obwohl darin auch wohl eine gute und gar biblische Lehre für mich liegen soll. Da muß ich denn auch noch ein paar Worte zum Lobe Deines braven Onkels hinzufügen. Er kennt jenes Verhältniß der Tante zu dem Domherrn. Hast Du in diesen drei Tagen nur den leisesten Schatten von Eifersucht an ihm bemerkt? Hast Du, seitdem der Domherr bei uns ist – er selbst lud ihn ein, mit uns zu reisen – nur die geringste Veränderung in seinem Benehmen wahrgenommen? in seiner guten Laune, in seiner Unbefangenheit, in seiner Freundlichkeit, in seiner Liebe und Zärtlichkeit gegen die Tante?“

„Hm, Ida, wenn das ein Stich gegen mich sein soll, so bitte ich Dich, doch auch zu gestehen, daß Deine Tante ihm auch nicht den leisesten Anlaß zur Eifersucht gegeben hat. Hast Du an ihr irgend eine Veränderung in diesen drei Tagen wahrgenommen? Selbst in dem Augenblicke, als sie plötzlich, unerwartet, ohne jegliche Ahnung, den Domherrn wiedersah? Ich vergesse das nie. Wir standen oben auf der Kuppe des Berges und bewunderten die wundervolle Aussicht. Ein einzelner Herr kam herauf, stellte sich neben uns, war ebenfalls in die herrliche Aussicht verloren, hatte auf uns nicht geachtet, wie wir nicht auf ihn geachtet hatten. Auf einmal wendet die Tante sich um, sieht den Fremden; er sieht sie, und sie erkennen sich. Seit den achtzehn Jahren hatten sie nichts von einander gehört; sie hatten sich wohl Tausende von Meilen von einander entfernt geglaubt. Da standen sie auf einmal beisammen, kaum drei Schritt von einander entfernt, mit aller ihrer alten, treuen Liebe in den Herzen, und sie sahen, daß die Herzen sich treu geblieben waren. Seine Brust trug das geistliche Domherrenkreuz, und neben der Tante stand – hm, mein kleiner, dicker Onkel. Und kein Schreck zog durch ihre Gesichter, und kein Unglück drückte sich darin aus. Ein Schmerz mochte wohl darin aufzucken; aber ehe man ihn sah, waren sie seiner schon wieder Herr geworden. Sie konnten sich die Hände reichen, ernst zwar, aber frei, ruhig, klar. Und dann konnte die Tante stolz, ja mit dem edelsten Stolze ihres edlen Herzens, ihn zu ihrem Manne führen, und den schönen Mann, der neben dem geistlichen Kreuze auch die anderen Orden, die Zeugen seiner Tapferkeit als Soldat, trug, und den braven kleinen dicken Onkel mit einander bekannt machen. Und wie schön, wie erhaben, wie unendlich schön war sie dabei!“

Der junge Mann hatte mit Feuer gesprochen, das Mädchen ihm mit Thränen in den Augen zugehört.

„Gustav,“ rief sie, „ich möchte Dich küssen vor allen den Leuten. Es schickt sich nur nicht. Aber alle Deine Eifersucht will ich Dir verzeihen, vergangene und zukünftige, und damit ich es schon gleich für die Zukunft kann – es giebt ja nichts Edleres, als Verzeihen – ah, sich Dich einmal um, Gustav.“

Das Brautpaar stand am Ende der Veranda, dort, wo man aus dieser hinausgehen mußte, um zu dem Leiterwagen zu kommen, der unterhalb hielt. Sie standen dort zwischen den Zweigen der gelben Akazien und der rothen und weißen Fliederbäume. Die Zweige verbargen sie halb vor der Gesellschaft in der Veranda, gestatteten ihnen aber einen vollen Blick auf diese.

„Sieh Dich um, Gustav, sieh dort!“ versetzte die Braut.

Der junge Mann sah hin, wohin sie zeigte.

„Der Student mit seiner rothen Mütze, Ida.“

„Ja, und die Mütze ist so schön.“

„Und was soll das?“

„Und er blickt so sehnsüchtig nach uns, und so zärtlich nach mir.“

„Ida!“

„Und es ist so süß, zu verzeihen. – Gustav!“

„Was willst Du, Ida?“

„Er muß mit. Du darfst mir nicht böse werden. Oder vielmehr, Du sollst mir böse werden, damit ich Dir verzeihen kann.“

„Aber, Ida!“

„Nicht wahr, Du thust mir den Gefallen? Ich bitte den Onkel. Platz im Wagen ist noch da. Und der Onkel braucht dann auch nicht bei dem Kutscher zu sitzen. Denn er ist galant und so gar nicht eifersüchtig, und er würde die Tante und den Domherrn beisammen sitzen lassen. Und wir könnten uns dann Alle so herrlich, so reizend arrangiren. Der finstere Herr und seine arme Frau blieben beisammen, das geht nun einmal nicht anders. Die zweite Bank nähmen die Tante und der Domherr ein, die dritte Du und der Onkel, und die vierte –“

Da fuhr der junge Mann doch auf; wie erstarrt hatte er schon lange gestanden.

„Und auf der vierten willst Du wohl mit dem Studenten sitzen?“

„Ja, Gustav, auf der vierten und letzten. Ihr Andern sitzt Alle vor uns.“

Der junge Mann machte Miene, sich die Haare auszureißen.

Das Mädchen wurde ernsthaft, es wurde sehr ernst.

„Gustav, Du sprachst vor einigen Minuten mit so innigem Gefühle, mit so voller Ueberzeugung von dem edlen Herzen meiner Tante, von dem braven Gemüthe, von dem hochherzigen Vertrauen Deines Onkels. Willst Du so viel, so weit weniger sein, als Dein Onkel? Willst Du mich so sehr tief unter meine Tante stellen, mich für geradezu schlecht halten?“

„Ida –“ wollte der junge Mann sie unterbrechen.

„Laß mich ausreden, Gustav! Du hast seit zwei Tagen jenes unglückliche Paar vor Augen, so tief unglücklich durch die eben so unbändige, wie unbegründete Eifersucht des Mannes. Willst Du werden, wie er? sollen wir werden, wie sie? Die Leidenschaft fängt klein an, sie wächst bis zu jener Unbändigkeit. Willst Du Dich und mich so vernichten, wie jener Mann, in dem der Onkel nur einen Mörder erblicken, den Niemand ohne Entsetzen sehen kann? Willst Du? Sprich, Gustav. Jetzt kannst Du es. Aber sieh mich dabei an; sieh mir klar in die Augen.“

Der junge Mann konnte dem Mädchen nicht nur nicht klar, er konnte ihm gar nicht in die Augen sehen. Er sah zur Erde nieder und mußte erwidern: „Deine Tante giebt auch dem Onkel keine Veranlassung zur Eifersucht.“

„Auch jene arme blasse Frau ihrem Manne nicht!“ rief das Mädchen.

„Auch sie nicht.“

„Aber ich? ich Dir?“ rief sie mit flammenden Augen, mit geröthetem Gesicht.

Der junge Mann antwortete nicht.

„Ich Dir?“ rief sie noch einmal.

Der junge Mann mußte zu ihr aufblicken. Er sah die gerötheten Wangen. Er mußte höher blicken, endlich in ihre Augen; er sah sie flammen; er sah aber auch, wie treu sie waren.

„Kannst Du mir vergeben, Ida?“ sagte er.

Er hielt ihr seine Hand hin. Sie nahm sie nicht.

„Gab ich Dir Veranlassung zur Eifersucht?“

„Nein, Ida.“

Sie nahm seine Hand.

„Das Wort gab Dir Gott.“ Dann sagte sie: „Komm, laß uns hinter den Wagen gehen, daß mich die Leute nicht sehen.“

Sie gingen hinter den Leiterwagen. Dort stürzten die hellen Thränen aus den Augen.

„Ida, Ida!“ rief der junge Mann erschrocken.

Sie mußte sich ausweinen.

„Und auch ich habe Dich um Verzeihung zu bitten, Gustav,“ sagte sie unter dem Weinen. „Ich sah Deine Anlage zur Eifersucht. Ich wollte Dich heilen, durch Scherz. Es war nicht recht von mir.“

[371] „Doch, doch,“ rief der junge Mann, „Du hast ja gerade das Rechte getroffen. Du hast mich geheilt. Bleibe immer so mein heiterer, lieber Arzt.“

Er küßte ihr die Thränen von den Augen. Sie konnten sich nur flüchtig umarmen. Der Onkel und die Tante kamen, mit ihnen der Domherr. Die Umarmung sahen sie nicht, aber die Thränen hatte der Bräutigam nicht ganz von den reizenden Augen der Braut wegküssen können. Die Tante sagte nichts, als sie dieselbe sah. Der Domherr hatte sie wohl nicht bemerkt. Der brave Herr Milden aber erschrak fast, und wie hätte er da schweigen können?

„Idchen, mein Mädchen, was fehlt Dir? Hat Dir der Junge etwas gethan? Was hat er Dir gethan? Sag’ es mir. Hat er Dich wieder mit seiner dummen Eifersucht geplagt?“

„Nein, Onkel. Aber ich war unartig gegen ihn gewesen.“

„Das ist nicht wahr. Was hättest Du denn gethan?“

„Soll ich mich noch einmal schämen?“

„Wetterhexe! Aber es ist doch nicht wahr.“

„Es ist auch nicht wahr, Onkel,“ sagte der Bräutigam, der der Braut nicht nachstehen wollte.

„Was war es denn?“

„Ida wünschte, daß wir den Studenten mitnehmen möchten.“

„Ha, und das wolltest Du eifersüchtiger Narr nicht!“

„Das wollte er nicht, Onkel,“ drängte sich das Mädchen vor.

„Und er hatte Recht. Ich sagte, mir gefalle die feuerrothe Mütze so, und unter der Mütze das frische und so weise Gesicht, das so gesetzt und so philiströs aussehe. Und da meinte Gustav, ich hätte einen schlechten Geschmack –“

„Hm, und darüber strittet Ihr?“

„Darüber stritten wir.“

„Und weintest Du?“

„Und weinte ich.“

„Hm, Gustav, sei doch einmal so gut, und gehe zu dem Studenten und bitte ihn in unser Aller Namen, daß er uns die Freude machen möge, mit von der Partie zu sein. – Sie erlauben es doch, Herr Domherr? Der junge Mensch war in den paar Stunden, die er vorgestern mit uns ging, recht amüsant.“

„Und er sprach so vernünftig, Herr Domherr,“ setzte bittend die Braut hinzu, „beinahe wie ein alter Mann, und er konnte so reizende Lieder in die Wälder und Berge hineinsingen.“

Der Domherr hatte sich schon zustimmend verbeugt. Der junge Mann war schon gegangen, den Studenten herbeizuholen. Er kam mit ihm zurück. Der Student sah wirklich so gesetzt und weise aus, und sprach so klug und verständig, und seine hellrothe kleine Mütze auf dem linken Ohr und die weiten Pumphosen und der kurze, knappe Rock, das Alles paßte so wunderbar zusammen. Er sprach in wohlgesetzten Worten seine Freude aus über das Glück des Wiedersehens und seinen Dank für die Ehre, die man ihm erzeige.

„Er sitzt bei Dir, Ida,“ sagte unterdeß leise der Bräutigam zu der Braut.

„Ei, ich bin wirklich ein guter Arzt,“ lachte das Mädchen.

„Und Ihr sitzt zusammen auf der letzten Bank.“

„Gustav, Du bist der reizendste Reconvalescent von der Welt.“

„Wo nur unsere Reisegefährten bleiben!“ sagte ungeduldig Herr Milden. „Hm, hm, hätte ich es früher gesagt, so wären sie früher gekommen. Da sind sie ja.“

Der finstere Mann kam mit der schönen blassen Frau. Er war höflich und weniger finster; sie war mild und freundlich. Sie hatten sich Beide gefaßt. Es mochte der Einen wie dem Anderen Mühe genug gekostet haben. Der Student war überrascht, als er sie sah. Er mochte sie kennen; er machte Zeichen des Erstaunens, freilich still und gesetzt. Niemand hatte es bemerkt. Das Ehepaar schien ihn nicht zu kennen.

„Hm, hm, wie sitzen wir?“ rechnete und dachte Herr Milden nach. Er wußte es. „Die beiden Damen bleiben zusammen. Ebenso der Herr Domherr und Sie, Herr Reisegefährte. Dann – hm, hm, das Brautpaar darf nicht getrennt werden.“

„Wird getrennt, Onkel!“ rief die Braut.

„Ah, Hexe, Du willst wohl bei mir sitzen?“

„Mit Verlaub, nein, aber bei unserem Herrn Studiosus.“

„Potz, alle tausend Bomben –!“ Er sah beinahe mit Angst seinen Neffen an.

„Hm, lieber Onkel,“ sagte lachend der Neffe, „so müssen wir Beiden zusammenbleiben.“

„Junge, dafür muß ich Dich küssen,“ rief der Onkel. „Sieh! diese nichtswürdige Eifersucht – “

Er brach plötzlich ab. Der finstere Reisegefährte war glühend roth, die blasse Frau blässer geworden. Der Student sah sehr geheimnißvoll und wichtig seine Nachbarin, die Braut, an, als wenn er ihr ein großes Geheimniß mitzutheilen habe. Sie setzten sich, wie der Onkel und das junge Mädchen es bestimmt hatten: vorn der Onkel und der Neffe; dann der Domherr und der finstere Herr; dann die beiden Frauen; auf der letzten Bank saßen der Student und die Braut.

Der Wagen fuhr ab, den Hügel hinunter, in das Thal hinein, über die Brücke des Stromes, an dem anderen Ufer des Stromes entlang, in dichte, duftige Waldung, auf vielfach gewundenem Wege einen hohen Berg hinan, um auf seiner Höhe, auf der Spitze des Weißen Steins, die schöne und berühmte Aussicht zu genießen. Es war überall schön, wo sie fuhren, überall eine frische Natur; bei jeder Biegung und Wendung erschlossen sich dem überraschten Blick neue reizende Punkte, bald in der nächsten Nähe, bald in weiter Ferne. Aber die Herzen in dem Wagen öffneten sich nicht. Der finstere Mann saß so finster, so stumm, so eisig kalt da; seine blasse Frau in so tiefen und schweren Gedanken. Da waren auch die Anderen still und stumm. Frau Milden hätte wohl gern Worte der Aufrichtung für ihre blasse Nachbarin gehabt; aber wäre nicht jedes Wort eine Anklage gegen den Gatten der Armen gewesen, der unmittelbar vor ihnen saß? Den Domherrn machte die eisige Kälte seines Nachbarn mit kalt. Selbst der redselige, höfliche und gutmüthige Herr Milden suchte vergebens eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Schwiegen die Aelteren, hätten wohl auch die Jüngeren schweigen sollen. Die schelmische Braut konnte es nicht ganz.

„Herr Student, Sie sagen ja kein Wort über die Schönheit der Natur.“

„Ich bewundere sie, mein Fräulein.“

„Wen? Mich?“

„Die schöne Natur.“

„Ei, Herr Studiosus, galant sind Sie nicht.“

„Verzeihen Sie, mein Fräulein.“

„Hm, ich verzeihe Ihnen schon gern – wenn nur auch mein Bräutigam es thut. Aber muß man denn wie im Grabe sitzen, wenn man bewundert?“

„Es ist ein tief begründeter philosophischer Zug, daß die wahre Bewunderung stumm macht.“

„Gott bewahre! Da sollte man ja nichts bewundern.“

„Sehr richtig, Fräulein. Nil admirari ist auch einer der tiefsinnigsten Sätze der Philosophie.“

„Sie sind kein Philosoph?“

„Woher vermuthen Sie das?“

„Weil Sie vorhin bewunderten.“

„Nein, ich bin kein Philosoph; ich bin Jurist. Aber ich habe auch die philosophischen Studien, besonders die Psychologie nicht vernachlässigt, da ich vorzugsweise Criminalist bin.“

„O, pfui! Blutrichter wollen Sie werden? Darum tragen Sie auch schon jetzt wohl die blutrothe Mütze?“

„Um Gotteswillen, Fräulein!“ flüsterte sehr leise der Student.

„Was giebt’s?“

Der Student zeigte schweigend auf den finsteren Mann und auf die blasse Frau. Der finstere Mann war auf seinem Sitze aufgefahren; die blasse Frau saß noch unruhig da.

„Kehren wir zur Bewunderung der schönen Natur zurück, mein Herr,“ sagte das Fräulein.

„Zu Befehl,“ mein Fräulein.

„Zu Befehl? Sie bewundern auf Befehl?“

„Auf Befehl einer schönen Dame thue ich Alles.“

„Ah, Sie sind doch galant! Aber sehen Sie, wie prachtvoll die Sonne in das Thal hineinscheint.“

„Ja, es bilden sich wunderbare Reflexe und Tinten.“

„Und duftige Farben und goldene Säume, Herr Student.“

„Ja, mein Fräulein, und wie der Strom glitzert, wie dunkle Schatten in jene Schlucht dort einziehen, wie die Kronen der mächtigen Eichen auf den hohen Bergen in goldenem Schimmer glänzen!“

„Aber vor Allem, Herr Student, wie wunderbar liegt jene alte Festung da! Die Spitzen der blauen Thürme, die Zacken der rothen Zinnen ragen so hell und glanzvoll und lustig zum Himmel empor; das hohe, große, weiße Haus rechts sonnt sich so stolz in [372] den Sonnenstrahlen. Ah, der Commandant wohnt wohl darin, ein stolzer, strenger General, der die Freuden der Tafel und das Nichtsthun des militärischen Paradelebens liebt. Und nun sehen Sie da unten die grauen Mauern, die dunklen Löcher darin, die Fenster vorstellen sollen. Es werden wohl die Kasematten sein, und in den Kasematten liegen die armen –“

„Fräulein!“ flüsterte der Student wieder leise.

„Was wünschen Sie?“

Der Student wollte wieder auf den finsteren Mann zeigen.

In dem Augenblicke wandte sich dieser um. Der Student ließ den Finger sinken. Das Fräulein hatte weder das Eine noch das Andere gesehen. Sie war auch vorher in der Veranda nicht Zeuge von dem eigenthümlichen Eindrucke gewesen, den die in der Festung gelösten Kanonenschüsse auf den finsteren Mann und dessen Frau gemacht hatten.

„In der Festung sitzen auch Staatsgefangene?“ fragte sie den Studenten.

„Hm, ja, ich glaube, Fräulein.“

„Und vorhin die drei Kanonenschüsse – Sie haben sie doch gehört, Herr Student?“

„Ich hörte sie.“

„Bedeuteten, daß Gefangene entkommen sind?“

„Zwei, mein Fräulein!“

„Ah, Herr Student, mit welchen Gefühlen mögen die jene schimmernden Thürme und Zinnen und die dunklen Mauern und Löcher betrachten! Vielleicht gerade in diesem Augenblicke! Vielleicht gar hier in unserer Nähe! Anderthalb Stunden weit mag die Festung von hier entfernt sein. Vor ungefähr anderthalb Stunden fielen die Schüsse. Weiter als bis hier können die Entflohenen wohl nicht gekommen sein. Sie werden zwar nach Kräften geeilt haben, wohl mehr, als die Kräfte aushalten konnten; aber wie viele Gefahren und wie viele Angst vor Gefahren legen dem Flüchtling Hinderniß und Aufenthalt in den Weg! Die armen Menschen! Vielleicht liegen sie hinter jenem Felsen, mit keuchendem Athem, mit ermüdeten, geschundenen Gliedern, bei jedem Laute, bei dem leisen Ziehen des Windes durch die Blätter der Bäume einen Verfolger, einen Verräther ahnend, und nun angstvoll, mit der Angst des Todes bereit zu der wilden Hetzjagd gegen sie, die ihnen den Tod bringt, oder – und wäre es nicht schlimmer, als der Tod? – die Rückkehr in ihre entsetzliche Gefangenschaft!“

„Hm, Fräulein,“ sagte der Student, und er sagte es verlegen und wie in seiner Verlegenheit nicht recht wissend, was er sagen solle, „hm, Fräulein, aber warum sollten denn die Flüchtlinge ihren Weg gerade hierher genommen haben?“

„Warum nicht?“ rief das Fräulein hastig und eifrig.

Zwei Blicke hatten sich unwillkürlich nach ihr umgewandt. Der finstere Mann sah sie mit einer drohend aufflammenden Gluth seiner großen, schwarzen Augen an. Die blasse Frau hatte einen Blick plötzlichen Erschreckens auf sie geworfen. Die Frau sah wieder schnell vor sich nieder. Der Mann ließ den drohenden Blick forschend auf den Studenten neben dem Fräulein gleiten; er schien nachzusinnen, ob er den jungen Mann schon irgendwo gesehen habe.

„Um des Himmels willen, schweigen wir von der Festung,“ flüsterte der Student seiner Nachbarin zu.

Das Fräulein saß blaß da. Der flammende, drohende Blick des finsteren Mannes hatte sie erschreckt. Sie antwortete dem Studenten nicht; sie sprach kein Wort mehr. Aber lange konnte sie das nicht aushalten. Der Wagen fuhr den Weißen Stein hinan. Der Weg führte zwar in bequemen Windungen zu der Höhe. Aber der Berg war hoch, und die vier starken Pferde vor dem Wagen mußten doch zuweilen Halt machen, um zu verschnaufen.

„Die armen Thiere!“ sagte das Fräulein. „Onkel!“ rief sie nach der vordersten Bank hin, „erlaubst Du, daß wir jungen Leute zu Fuße den Weg zur Höhe machen? Mein Herr Nachbar, der Gustav und ich?“

„Prachtmädel, und auch ich bin dabei!“ rief der kleine dicke Herr zurück, der auch gegen Thiere gutmüthig war.

„Mein Herr,“ sagte der Domherr zu seinem Nachbar, „da werden auch wir Beiden nicht zurückbleiben dürfen.“

Der finstere Mann mußte mit aufstehen. Er warf einen zweifelhaften Blick auf seine Frau. Sie mochte ihn verstehen. Auch sie wollte sich erheben.

„Wir zwei Frauen bleiben,“ sagte mit ihrer ruhigen und sicheren Entschiedenheit Frau Milden.

Die zwei Frauen blieben in dem Wagen, der weiter fuhr. Die Anderen hatten ihn verlassen und gingen neben ihm her. Dem Fräulein war die große Begleitung wohl nicht recht. Sie hatte den Studenten so viel zu fragen; der Onkel wich nicht von ihrer Seite; der finstere Herr sah den Studenten mißtrauisch an. Aber sie wußte sich zu helfen. Sie kannte den braven Onkel und dessen Neugierde, und was sie von dem Studenten wissen wollte, das durfte, ja mußte am Ende auch der Onkel erfahren. Sie nahm den kleinen dicken Herrn auf die Seite.

„Onkel, der Student hat mir etwas sehr Wichtiges und Geheimes zu erzählen.“

„Potz alle Tausend – und das darf ich wohl nicht hören und da soll ich Dich allein mit ihm lassen?“

„Nein, Sie sollen es gerade hören, aber unser finsterer Reisegefährte nicht.“

„Und warum der nicht?“

„Weil es gerade ihn angeht. Der Student weiß, wer er ist.“

„Ah, ah, Idchen, und Deine Bitte?“

„Sie möchten den Gustav bitten, daß er mit dem Domherrn ihn in Beschlag nimmt.“

„Das soll auf der Stelle geschehen, mein Kind.“

Herr Milden sprach ein Paar leise Worte mit Herrn Gustav.

Der junge Mann sprang zu dem finsteren Herrn, und der kleine dicke Herr kehrte zu der Braut zurück. Fräulein Ida wandte sich an den Studenten.

„Herr Student, warum durfte ich vorhin die Festung nicht bewundern?“

„Sprechen Sie leiser, Fräulein. Ich bitte Sie. Um jenes finstern Herrn willen!“

„Soll ich noch leiser sprechen?“

„Ich bitte Sie darum.“

„Und durfte ich auch vorhin nicht bewundern?“

„Sahen Sie nicht –?“

„Seine drohenden Blicke? O ja. Aber ist er denn so gefährlich?“

„Er hat wenigstens künftig mein Schicksal in der Hand.“

„Potz Wetter – er sieht freilich beinahe aus wie ein Scharfrichter; aber Sie sehen nicht aus wie ein armer Sünder.“

„Nein, nein, – aber ich bin Jurist und vorzugsweise Criminalist, und da wird er künftig mein Vorgesetzter werden –“

„Und da fürchten Sie sich jetzt schon vor ihm, freier, deutscher Student?“

„Man will doch seine Carriere machen, Fräulein. Warum hätte man sonst studirt?“

„Sie werden sie machen. Wie heißt der Herr?“

„Es ist der Herr Oberstaatsanwalt von Rachenberg.“

„Potz – die Oberstaatsanwälte sind ja wohl die Vettern des Richters?“

„Idchen, Idchen,“ lachte Herr Milden, „weißt Du, wer früher der Vetter des Richters hieß?“

„Nein, Onkel. – Aber erzählen Sie von ihm, Herr Student.“

„Sie werden jetzt begreifen, Fräulein, warum er Ihnen jene Blicke zuwarf, als Sie Mitleid mit den entsprungenen Gefangenen zeigten.“

„Dürfen denn Oberstaatsanwälte kein Mitleiden haben, nicht einmal dulden?“

„Hm, Fräulein, der Oberstaatsanwalt von Rachenberg hat jene Festung bevölkern helfen. Es sitzen manche Staatsgefangene dort, Staatsverbrecher, und er hat die Processe gegen sie geführt, und er ist ein sehr strenger, er ist, ich möchte sagen, ein leidenschaftlich strenger Beamter.“

„Hm,“ meinte Herr Milden, „ich denke, leidenschaftlich soll nie ein Beamter sein.“

„Sie wollen erwägen, Herr Milden,“ sagte der Student, „ich sprach nur von der Leidenschaftlichkeit seines Rechtsgefühls.“

Herr Milden schüttelte den Kopf. Er verstand das wohl nicht.

„Sie können sich also erklären,“ fuhr der Student zu dem Fräulein fort, „daß es ihm nicht sehr angenehm sein müßte, wenn ein paar Staatsgefangene entsprungen wären, zumal wenn –“

„Warum fahren Sie nicht fort, Herr Studiosus?“

„Sie werden mich doch nicht verrathen?“

„Seien Sie beruhigt.“

„Nun, Sie haben seine blasse Frau gesehen?“

„Sie fährt ja noch vor uns, mit meiner Tante.“

[385] Haben Sie nie etwas von der Geschichte der blassen Frau gehört?“ fragte der Student.

„Niemals,“ antwortete das junge Mädchen.

„Sie war eine wunderschöne junge Dame.“

„Ich denke, sie ist es noch.“

„Hm, ja. Aber sie war arm. So hatte sie trotz ihrer Schönheit ziemlich unbeachtet in der Residenz gelebt. Da sah sie der Herr von Rachenberg. Er machte ihr den Hof und bot ihr seine Hand an. Sie konnte sich nicht entschließen. Aber sie hatte einen harten Bruder, von dessen Gnade sie lebte. Der Herr von Rachenberg war reich, hatte damals schon eine hohe Stellung; hatte die Aussicht, nächstens Oberstaatsanwalt zu werden; wird, wenn er diese Stelle vielleicht nur noch ein Jahr lang bekleidet hat, Präsident werden, und seine Untergebenen sehen schon jetzt den künftigen Justizminister in ihm. Der Bruder redete ihr zu, wohl nicht immer freundlich, und die Arme – ach, mein Fräulein, es wurde erst nachher bekannt, die Arme hatte eine Liebe mit einem Freiherrn von Wartenburg, eine geheime Liebe, von der die Welt nichts erfahren durfte, welche die beiden Liebenden tief in ihre Herzen verschließen mußten. Der Baron Wartenburg war noch nicht sein eigener Herr, sein Vater lebte noch. Er stand andererseits mit an der Spitze der demokratischen oder eigentlich demagogischen Partei, die damals die Throne umstürzen wollte, die eine Zeit lang die Macht gehabt hatte, deren Macht aber jetzt gerade mehr und mehr gebrochen wurde, denen als Hoch- und Landesverräthern täglich mehr und mehr der Kerker, selbst das Schaffot drohte. Die Liebenden mußten ihre Liebe in das tiefste Geheimniß hüllen. Der Bruder, der zu den entschiedensten Anhängern der Regierungspartei gehörte, hätte die Verlobte des berüchtigten Demagogen aus dem Hause geworfen. Der alte Freiherr stand ohnehin schon im Begriff, den entarteten Sohn zu enterben. Das arme Mädchen widerstand dennoch lange den Zuredungen und Drohungen des Bruders. Da wurden eines Tages alle jene Häupter der hochverräterischen Verschwörung verhaftet, es wurde ihnen der Proceß gemacht. Fräulein Julie Sommer, – so hieß die Arme – verfiel in eine schwere Krankheit. Als sie halb genesen war, erklärte der Bruder ihr seinen unabänderlichen Willen, daß sie den Herrn von Rachenberg heirathen müsse. Der durch das schwere geistige und körperliche Leiden Gebrochenen fehlte jede Kraft des Widerstandes. Sie wurde die Gattin des Herrn von Rachenberg, die Gattin des Mannes, der fast von dem nämlichen Tage an mit einer unerbittlichen Strenge, mit jener Leidenschaft der Strenge den Geliebten ihres Herzens verfolgte. Dem Herrn von Rachenberg war die Anklage in dem Processe gegen die Hochverräther aufgetragen. Nach dessen Beendigung sollte er Oberstaatsanwalt werden. Man sagte später, ihm sei auch damals schon das heimliche Liebesverständniß zwischen Fräulein Sommer und dem Baron Wartenburg bekannt gewesen. Gewiß ist, daß seine ganze Strenge mit eisernster Faust gerade den Herrn von Wartenburg packte. Dieser wurde zu lebenslänglicher Festungsstrafe verurtheilt; freilich drei oder vier der hervorragendsten Häupter der Verschwörung mit ihm.“

Die junge Braut hatte während der Erzählung doch den Onkel ansehen müssen. Aber der brave Herr Milden hatte ruhiger zuhören können, als sie.

„Hm, hm,“ sagte er, „Herr – wie ist doch Ihr werther Name?“

„Heinrich Eisen.“

„Hm, hm, Herr Eisen, Sie meinen, jene verurtheilten Hochverräther säßen in der Festung da hinten?“

„Ich meine das nicht blos, Herr Milden, ich weiß es.“

„Auch der Baron Wartenburg?“

„Auch er.“

„Potz alle Tausend, und wenn er nun einer der Entsprungenen wäre!“

„Ich hatte auch daran denken müssen, Herr Milden.“

„Und – potz, potz – Idchen, wenn wir jetzt auf einmal auf den Baron stießen –!“

„Ich vertheidigte ihn, Onkel.“

„Und ich glaube wahrhaftig, ich stände Dir bei.“

„Und Sie, Herr Eisen?“ fragte das Mädchen.

„Hm, hm, es wäre eine eigene Sache.“

„Und Sie heißen Eisen?“

„Ich werde eisern im Rechte werden.“

„Aber, Idchen,“ sagte Herr Milden, „wir wollen doch nicht wünschen, daß der arme Mensch uns begegnet. Es wäre der Tod der unglücklichen Frau.“

„Und was ist ihr seine ewige Gefangenschaft? Zumal jetzt, da sie sich ihn schon frei denkt! Ihr Herz ist überzeugt, daß er sich befreit hat. Wie sollte er auch nicht?“

„Ja, ja, und auch er glaubt daran, ihr Mann. Wie schlug ihm die helle Flamme der Eifersucht aus den Augen heraus, als sie bei den Kanonenschüssen in Ohnmacht fiel!“

„Die arme Frau!“

„Aber still, Idchen! Da sind wir oben, laß nichts merken.“

[386]
3. Die Steile Wand.

Sie standen auf dem schönsten Punkte, den die Höhe des Berges darbot, und genossen eine freie und weite Aussicht über den langen Kamm des Gebirges, in die Thäler und Ebenen zu dessen beiden Seiten. Die reinste Abendsonne beleuchtete die schöne Doppellandschaft. Sie war noch ziemlich hoch am Himmel, erst in einer Stunde war ihr Untergang zu erwarten; aber leichtes Abendgewölk zog ihr schon hinten am fernen Horizont entgegen.

Sie standen Alle in stummer Bewunderung des herrlichen Schauspiels. Selbst aus der Brust des finsteren Oberstaatsanwaltes schien der wundervolle Anblick für einige Zeit die leidenschaftlichen Regungen verbannt zu haben, und seine blasse Frau – sie schaute an dem Arme der Frau Milden mit träumerischem, sanft und weich glänzendem Auge in die schöne Natur hinein, in die weite Ebene nach Westen, die so klar, so ruhig und so still in dem Lichte der Abendsonne dalag; sie sah der Sonne nach, die sich tiefer und tiefer senkte, um in der Nacht zu verschwinden. Das Auge der blassen Frau behielt seinen weichen, träumerischen Glanz. Die Frau Milden sah es und drückte still die Hand der Freundin.

Freundinnen waren sie geworden, die beiden Frauen, in der kleinen halben Stunde, die sie allein auf dem Wagen beisammengesessen hatten. Wie es nicht anders hatte sein können, als daß ihre Herzen sich hatten verstehen, sich gegen einander öffnen, sich hatten lieben müssen, so zeigte das auch so natürlich jeder ihrer Blicke, jede ihrer Bewegungen. Man sah ein Paar Schwestern, von denen die ältere und stärkere die jüngere, schwächere, tief und schmerzlich leidende mit um so heilenderem Troste umfassen konnte, als ihr eigenes Herz ihr ein so klares Verständniß, ein so inniges Mitgefühl für jene tiefen und schmerzlichen Leiden gab.

Dem scharfen, mißtrauischen Auge des Gatten der leidenden Frau war das am wenigsten entgangen. Die fast ewig finsteren Wolken auf seiner Stirn waren drohender geworden. Aber seine Gattin konnte ihm frei in das Auge blicken. Er hatte sich wieder beruhigt; es hatte wenigstens so geschienen. Er sah auch jetzt den Händedruck der beiden Frauen. Es zog dem leidenschaftlichen, eifersüchtigen Manne krampfhaft die Hände, die Gesichtsmuskeln zusammen.

Die Gesellschaft ging weiter, denn der Berg bot noch manche andere schöne Punkte dar. Herr Milden, der schon öfter hier gewesen war, machte den Führer. Sie verließen die offenen Plätze, welche die weiten, freien Aussichten gaben, und kamen in ein Gehölz, und am Ende desselben vor einen mächtigen, breiten, hohen Felsen. Er lag vor ihnen, als wenn er die Welt, eine andere, unbekannte Welt, vor ihnen verschließen wolle.

„Hm,“ sagte Herr Milden geheimnißvoll, „hier werden wir wohl umkehren müssen.“

„Warum?“ wurde er gefragt.

„Es ist gefährlich dort, und der Mensch verlange nimmer und nimmer zu schauen, was sie, die Götter nämlich –“

„Onkel,“ rief die Braut, „wir stehen an der Steilen Wand?“

„Ja, Mädchen, und da müssen wir zurück.“

„Da müssen wir hin, Onkel! Sie haben mir so viel davon erzählt! Es soll so schön dort sein.“

Auch der Bräutigam und Herr Eisen baten, und der Domherr gab endlich den Ausschlag. „Herr Milden, lassen Sie die Jugend der Gefahr in’s Auge schauen. Sie tritt später noch oft an den Menschen heran, an jeden und in jeder Form. Es ist gut, wenn sein Auge sie schon kennt.“

„Nun denn, so folgen Sie mir,“ sagte Herr Milden. „Aber Du, Emchen, willst doch nicht mitgehen?“

„Wir beiden Frauen bleiben zurück,“ erwiderte die Frau.

Der Felsen, an dem sie standen, hatte mehrere Vorsprünge; einer von diesen verbarg einen breiten Einschnitt. Sie gingen durch diesen, sie waren auf der Steilen Wand.

Der Oberstaatsanwalt hatte einige seiner finsteren, mißtrauischen Blicke auf die beiden zurückbleibenden Frauen geworfen, dann war er mit den Anderen weiter gegangen. Man hätte an seinem Muthe zweifeln müssen, wenn er zurückgeblieben wäre.

Die Steile Wand war eine lange, senkrechte Wand, die der schroff vorspringende Felsen bildete; längs der Wand lief ein schmaler Raum, der kaum drei bis vier Fuß breit war, unter dem sich unmittelbar ein tiefer Abgrund aufthat, und den man nur einzeln, Mann für Mann, betreten durfte, wenn man nicht Gefahr laufen wollte, in den Abgrund zu stürzen; eine Brustwehr hatte in dem harten und spröden Gestein des Felsens sich nicht anbringen lassen. Der Besuch des Platzes war in der That gefährlich, und wie viele Reisende auch alljährlich die Höhe des Weißen Steins erstiegen, um sich an seiner reizenden Aussicht zu erfreuen, auf die Steile Wand begaben sich nur wenige, und diese wenigen nicht ohne große Vorsicht. Und doch war es ein so eigenthümlicher, wie unheimlicher, so auch heimlicher Platz. Man stand dort völlig abgeschieden von der Welt, auf einem Raume, der nicht vier Fuß breit war, hinter sich die steile, kahle Felswand, vor sich unmittelbar den tiefen Abgrund, dessen Tiefe man nicht wagen durfte ermessen zu wollen, wenn man sich nicht zugleich der Gefahr des rettungslosen Sturzes aussetzen wollte. Man konnte nur eben in eine unergründliche Tiefe hinunterblicken, in der das Auge nach oben hin nur starre Felsenzacken und wildes Gestrüpp, dann aber nichts mehr unterschied, in der das Ohr aber tief, tief unten das Rauschen eines Wassers vernahm. Jenseits der dunklen Tiefe erhob sich ein hoher, steil und spitz zulaufender, mit Holz bewachsener Berg, oben auf seiner Spitze erblickte man graues Gestein; man konnte nicht unterscheiden, ob es Felsenstücke oder Ruinen eines alten Burggemäuers waren. Zwischen dem spitzen Berge und der steilen Wand des Felsens befand sich ein kleiner offener Zwischenraum; man sah durch ihn in eine endlose Ebene, und in deren Mitte gerade auf eine Stadt, auf ihre dunkle Häusermasse, auf ihre Gruppe hoher Kirchenthürme.

Die Reisenden standen auch hier in stillem Anschauen. Nur des Staatsanwaltes hatte sich eine eigenthümliche Unruhe bemächtigt. Herr Milden, der für Alles Augen hatte, bemerkte es.

„Sieh’ ihn Dir einmal an, Idchen,“ sagte er leise zu der Braut.

„Ja, Onkel, er sieht so unheimlich aus, wie die finstere Tiefe hier unter uns.“

„Ja, ja, Idchen, und als wenn er in der dunklen Tiefe etwas suchte, so etwas recht Entsetzliches.“

„Vorhin suchten seine Augen da drüben.“

„Wo, wo, Ida?“

„An den Steinen da oben, auf der Spitze des Berges. Er sah starr und scharf hin, als wenn er das alte Mauer- oder Felsenwerk mit seinen Augen durchbohren wolle. Auf einmal zuckte er und fuhr zusammen. Er mußte da oben etwas gesehen haben. Ich blickte schnell hin und meinte noch wahrzunehmen, daß sich etwas zwischen den Mauern bewege. Als ich schärfer hinsah, war es fort. Ich dachte, ich hätte mich getäuscht.“

Herr Milden schwieg einige Minuten. „Idchen,“ sagte er dann leicht, „mir kommt da ein sonderbarer Gedanke! Wenn seine mißtrauischen Staatsanwaltschafts- und Ehemannsaugen da oben die beiden Flüchtlinge …“

„Ich mußte wahrhaftig auch daran denken, Onkel,“ unterbrach ihn Idchen.

„Aber was sucht er denn jetzt da unten?“

„Ein Grab, Onkel.“

„Ein Grab? Mädchen, wie kommst Du darauf? Ein Grab und für sich? Danach sieht er mir nicht aus.“

„Nein, nicht für sich, aber –“

„Um Gottes willen, Mädchen, schweig. Er sieht auf uns. Sind seine Ohren so scharf, wie seine Augen, so hat er am Ende gehört, was wir sprachen.“

Sie brachen ihr Gespräch ab.

„Aber er sucht doch ein Grab da unten,“ sagte das Mädchen für sich, „und ich muß es wissen.“

Sie schüttelte sich, als wenn ein Grausen sie erfaßt habe, und trat zu dem Studenten.

„Herr Eisen, was blicken Sie so tiefsinnig in die Tiefe hinein?“

„Ich, mein Fräulein?“

„Ja, Sie. Woran dachten Sie?“

„Ich dachte gerade, wie diese tiefe, undurchdringliche Schlucht einen herrlichen Schlupfwinkel für Verbrecher abgeben könne.“

„Ei, ei, sind Sie denn überall vorzugsweise Criminalist?“

Der Oberstaatsanwalt sah sich plötzlich nach ihr um. Den Studenten hatte er schon bei dessen Antwort fixirt, und dieser hatte es bemerkt. Er war roth geworden und antwortete nicht.

„Und an was für Verbrecher dachten Sie?“ fragte ihn das Mädchen weiter. „An eine Räuberbande oder an – Ah, es [387] waren ja wohl Staatsverbrecher, die aus der Festung da hinten entsprungen sind?“

„Um Gottes willen, Fräulein!“ bat der Student leise und wie in Todesangst. „Man weiß ja gar noch nicht,“ setzte er laut hinzu, „was für Menschen entkommen sein mögen.“

„Doch, doch! Und da oben, auf dem Berge da drüben, an den alten Steinen oder Felsen –“ Sie hielt inne.

Der Staatsanwalt zuckte noch einmal heftig zusammen; er wandte sich ab, daß man sein Gesicht nicht sehen solle.

„Richtig!“ sagte das Mädchen für sich. „Indeß hat er die Flüchtlinge, so haben diese ihn erkannt, und da oben treffen sie seine Schergen nicht mehr.“

„Herr Eisen,“ sagte sie dann wieder laut, „wissen Sie, woran ich dachte, als ich in den gräulichen Abgrund hier zu unseren Füßen blickte?“

„Ich weiß es nicht, mein Fräulein.“

„An die Ruhe des Herzens.“

„Sie an Ruhe?“

„Ja, und gar an die Ruhe des Grabes.“

„Ah, ein Grab da unten! In der unergründlichen Tiefe! Der Gedanke ist wenigstens romantisch.“

„Meinen Sie?“

Sie mußte sich wieder schütteln, denn sie hatte abermals den Staatsanwalt angesehen, der plötzlich sich nach ihr umgewandt und einen Blick, wie des tätlichsten Hasses, auf sie gezuckt hatte.

„Ah, mich friert!“ rief sie dann. „Es ist hier zu grausig. Laß uns gehen, Gustav. Mir schwindelt.“

Sie verließen Alle die Steile Wand, das Mädchen am Arm ihres Onkels.

„Onkel, Onkel,“ sagte das Mädchen zu ihrem Führer, „in der Seele des Menschen gehen entsetzliche Dinge vor.“

„Du meinst den Staatsanwalt, Kind?“

„Beobachten wir ihn, wenn er zu seiner Frau zurückkommt. Aber er darf nichts merken.“

Sie kamen aus dem Einschnitt des Felsen heraus. Sie hatten dort vorhin die beiden Frauen zurückgelassen, an dem Stamm einer mächtigen Buche. Es war leer unter der Buche. Auch rund umher war Niemand zu sehen.

„Was ist denn das?“ rief Herr Milden, „wo mögen sie geblieben sein?“

„Emilie!“ rief er laut in das Gehölz hinein. Es kam keine Antwort. „Sie können doch nicht fortgegangen sein. Sie wollten hier auf uns warten.“

„Emilie! Emilie!“ Es kam keine Antwort. „Das ist doch sonderbar.“

Der Staatsanwalt war glühend roth geworden. Seine Augen durchflogen alle Richtungen des kleinen Waldes.

„Sie werden zu dem Gasthofe auf der Höhe zurückgekehrt sein,“ sagte der Domherr.

„Nein!“ rief auf einmal heftig der Staatsanwalt.

Sein Gesicht hatte wieder die gewöhnliche tiefe, finstere Blässe angenommen. Er hatte, als seine Augen das Gehölz durchflogen, sich schnell orientirt; seine furchtbare Leidenschaft hatte ihn geleitet.

Sie waren oben auf dem Kamme des Gebirges. Auf dem Kamme erhoben sich einzelne höhere Felsen und Kuppen. Einer der Felsen war der, welcher die Steile Wand bildete, eine der höchsten Kuppen jener schroff und spitz zulaufende Berg, auf dessen oberstem Gipfel man das graue Gestein sah, nach welchem der Staatsanwalt so starr und scharf geblickt und wo das junge Mädchen menschliche Gestalten gesehen zu haben geglaubt hatte. Der Berg lief nur nach den anderen Seiten steil zu-, nach dem Wäldchen hin, das sich auch an seinem Fuße entlang zog, dachte er sich sanft ab. Nach dem Fuße der Bergkuppe hin wandte der Staatsanwalt seine Schritte. Er eilte; wilde Leidenschaft trieb ihn.

„Alle Tausend!“ rief Herr Milden beinahe ängstlich, und er war fast geschwinder, als sein finsterer Reisegefährte.

Mit ihm war der Domherr. Sie brauchten nicht weit zu gehen, kaum fünfzig Schritte. Da saß, an einen Baum gelehnt, Frau Milden. Sie hielt in ihren Armen die ohnmächtige Frau des Staatsanwalts. Sie war selbst blaß, als sei sie einer Ohnmacht nahe.

„Was ist hier geschehen?“ rief der Staatsanwalt.

Er rief es laut, befehlend, drohend; er rief es in der höchsten Aufregung jener wilden Leidenschaft, die ihn hierher gejagt, die ihn nicht irre geführt, und die nun in seinem Innern ganz und gar Recht hatte.

„Ruhig, mein Herr!“ erwiderte ihm Frau Milden, befahl sie ihm mit der vollen klaren, einfachen und so mächtigen Ruhe ihres edlen Herzens.

Der Staatsanwalt war der Mann der unbändigen Leidenschaft und der Mann, der an Befehlen und an den Gehorsam gegen seine Befehle gewöhnt war. Vor der hohen Ruhe der edlen Frau beugte er sich aber unwillkürlich; er unterwarf sich ihrem Befehle. Er unterwarf sich ihr, wie einem höheren Wesen.

„Verzeihen Sie, gnädige Frau. Der Zustand der Armen –“

„Bedarf der vollsten Ruhe. Darum durfte ich auf jenes Rufen nicht antworten.“

Der Staatsanwalt schwieg. Herr Milden wollte wieder nach frischem Wasser für die Ohnmächtige laufen.

„Es bedarf dessen nicht,“ sagte seine Frau. „Sie liegt mehr in einem Schlafe, als in der Erschöpfung der Ohnmacht. Sie wird bald erwachen. Sie muß aber auch dann durch nichts beunruhigt werden. Wenn ich daher bitten dürfte, mich mit ihr ganz allein zu lassen – An dem Felsen, an dem wir uns trennten, würden wir uns wieder zusammenfinden.“

Sie wollten sich Alle entfernen. Nur der Staatsanwalt zögerte.

„Auch Sie, mein Herr,“ sagte Frau Milden zu ihm.

Er konnte sich dennoch nicht entschließen. Wie hätte er es gekonnt?

Während die beiden Frauen allein gewesen, war ihnen etwas begegnet. Es hatte seine Frau betroffen, es war etwas tief Ergreifendes für sie gewesen. Ueber das Alles war kein Zweifel. Aus anderen Thatsachen, die feststanden, combinirte nun seine Eifersucht weiter. Aus der Festung waren Gefangene entsprungen. Natürlich hatten sie die bequemere allmähliche Abdachung des Berges nach dem Gehölze hin gewählt. Sie waren in diesem plötzlich auf die beiden Frauen gestoßen. Unter den Gefangenen war Herr von Wartenburg, er stand plötzlich vor der Geliebten. In ihrem Herzen erwachte die alte Liebe wieder, die niemals daraus entwichen war, die wohl niemals auch nur darin geschlummert hatte. Sie ergriff das Herz der Frau mit erneuter Gewalt, sie warf sie in Ohnmacht. Der Geliebte hatte weiter flüchten müssen, als Menschen herbeikamen; aber was war bis dahin noch geschehen? Was hatten die Herzen einander zu sagen gehabt? Was hatten sie einander gesagt?

Der Staatsanwalt knirschte mit den Zähnen, indem er daran dachte. Seine Augen sprühten tödtliche, vernichtende Blitze auf die ohnmächtige Frau.

„Wer war hier?“ fragte er Frau Milden. „Wer hat mit meiner Frau gesprochen?“

Frau Milden erhob ihr Haupt mit edlem, zürnendem Stolze.

„Mein Herr, muß ich Sie zum zweiten Male daran erinnern, was Ehre und Anstand von Ihnen fordern?“

Er biß die Zähne zusammen. – Der Galopp von Pferden wurde gehört, kam näher, hatte das Gehölz erreicht. Der Staatsanwalt sah sich wie mechanisch danach um; er erkannte, was sich nahte. Sein Gesicht durchzog eine wilde Freude. Drei Gensdarmen mit einem Officier an der Spitze kamen in das Gehölz gesprengt.

Sie erblickten die Gruppe unter dem Baume und sprengten auf sie zu. Der Officier erkannte den Staatsanwalt.

„Ah, Herr Oberstaatsanwalt, Sie hier?“

Der Staatsanwalt war auf einmal der gemessene, strenge Beamte, der öffentliche Verfolger der Verbrechen, der Ankläger auf Leben und Tod, der in allen seinen Amtshandlungen, mochte es in seinem Innern kochen und stürmen, und wüthen und loben, äußerlich die Kälte des Eises, die Ruhe des Grabes bewahren konnte und bewahren mußte.

„Herr Lieutenant von Frankenstein,“ fragte er mit dieser Ruhe und Kälte, „Sie verfolgen Entsprungene aus der Festung?“

„Zu Befehl, Herr Oberstaatsanwalt!“

„Wie viele sind entkommen?“

„Zwei.“

„Ihre Namen?“

„Der Graf Golzenbach und –“

„Ha!“ mußte der Staatsanwalt unwillkürlich rufen. Aber der Ruf war der Ruf des Erschreckens, und sein Gesicht war bleich geworden.

„Und der Herr von Wartenburg,“ fuhr der Officier fort.

Das blasse Gesicht des Staatsanwalts war wieder kalt und ruhig.

[388] „Gnädige Frau,“ wandte er sich zu Frau Milden, „nach welcher Gegend wandten sich die, welche hier waren?“

Frau Milden hatte nur einen Blick schweigender Verachtung für ihn. Der Staatsanwalt sah es nicht, er war in seinem Amte.

„Herr Lieutenant, die Entsprungenen, die Sie verfolgen, waren vor einer Viertelstunde auf jener Höhe, dann hier im Gehölze, und können nur in jener Richtung, dem Gebirge entlang, ihre Flucht fortgesetzt haben. – Sind Ihre Gensdarmen der Gegend kundig?“

„Vollkommen, Herr Oberstaatsanwalt; eben so ich.“

„Nun, so müssen in spätestens einer Stunde die Flüchtigen in Ihren Händen sein – wenn Sie eilen.“

„Ah, Herr Oberstaatsanwalt,“ meinte der Officier, „großer Eile wird es kaum bedürfen. Die Entflohenen haben eine hohe Mauer der Festung ersteigen müssen. Dabei ist einer von ihnen gestürzt und hat sich erheblich verletzt.“

„Und welcher von ihnen?“

„Wir wissen es nicht. Wir sahen nur die Blutspur.“

„Um so besser, Herr Lieutenant. Sei es von den Beiden, welcher will, der Andere läßt den Verwundeten nicht im Stich. Ich wünsche Ihnen Glück.“

Der Officier und seine drei Gensdarmen sprengten in der Richtung weiter, die ihnen der Staatsanwalt angegeben hatte.

Die Ohnmächtige war erwacht. Sie hatte den letzten Theil des Gesprächs zwischen ihrem Gatten und dem Lieutenant gehört.

Sie schauderte. Frau Milden schloß sie fester in ihre Arme.

„Um des Himmels willen, verrathen Sie sich nicht.“

Der Staatsanwalt hatte gesehen, wie seine Frau die Augen aufschlug. Er nahete sich ihr.

„Leonore, gestatten Dir Deine Kräfte, aufzustehen?“

„Ich hoffe.“

„So bitte ich Dich, es zu versuchen.“

„Nicht doch,“ wollte Frau Milden Einsprache erheben.

„Ich bitte, gnädige Frau! Meine arme Frau hat Ihnen schon zu viele Last machen müssen.“

Er reichte seiner Frau die Hand. Sie konnte sich daran aufrichten. Sein Arm stützte sie. Dann wandte er sich wieder zu Frau Milden, zu den Andern. Er hatte kalt, gemessen, aber höflich gesprochen; so waren auch seine Bewegungen gewesen. So sprach und war er weiter.

„Gnädige Frau, nehmen Sie meinen und meiner Frau innigsten Dank. Nehmen Sie Alle unseren Dank für die Freundlichkeit, die Sie in den Tagen unserer gemeinschaftlichen Reise uns geschenkt haben. Wir müssen hier von Ihnen scheiden. Sie fragen mich, warum. Die Antwort, die ich Ihnen darauf zu geben habe, ist mir gewiß eine sehr schmerzliche. Es ist in unser Beisammensein ein Mißton getreten, der uns ferner nicht mehr beisammen duldet. Die Schuld ist nur auf meiner Seite. Aber machen Sie mich nicht zu sehr verantwortlich für sie. Schon das Amt des Criminalrichters wird als ein schweres betrachtet; man will nur gar zu oft und gar zu gern dem Manne, der es trägt, Härte des Herzens zuschreiben. Der Staatsanwalt, der öffentliche Ankläger der Verbrechen, hat eine noch schwerere, eine noch traurigere Pflicht zu erfüllen, und erfüllt er sie, wie Gewissen und Ehre es ihm vorschreiben, so ist er fast Allen der Mann der vollen Herzlosigkeit, man scheut, man haßt, man meidet ihn. Ich bin gewohnt, meine Pflicht streng, mit der äußersten Strenge zu erfüllen. Ich kann nicht anders. Ich habe vor Ihren Augen so eben einen Beweis davon liefern müssen. Ich lese in Ihren Blicken das Urtheil darüber. Wir müssen uns trennen. Leben Sie wohl.“

Er verließ, seine Frau am Arm, die Gesellschaft. Seine Stimme hatte gegen das Ende seiner Worte beinahe etwas wie ein leises Zittern verrathen. Er entfernte sich mit seinem gemessenen, festen Schritte. Seine Frau glaubte man an seiner Seite schwanken zu sehen. Ihr Gesicht hatte sie mit ihrem Taschentuche bedeckt. Frau Milden weinte, als sie gingen. Auch die Augen der Braut waren feucht. Die Männer standen ernst und stumm.

Der gutmüthige Herr Milden hatte zuerst wieder Worte.

„Hätten wir ihm nicht doch in Manchem Unrecht gethan?“

Keiner antwortete ihm.

„Heuchelei,“ fuhr er dann fort, „lag wenigstens nicht in seinen Worten.“

„Nicht gegen uns,“ bestätigte halb der Domherr.

„Sie meinen, er macht den Heuchler gegen sich selbst, Herr Domherr?“

„Nehmen Sie ihn, wie wir ihn sahen,“ sagte der Domherr.

„Er ist der Mann der heftigen, fast wilden Leidenschaft. Es ist ihm ein Amt übertragen, das nur der ruhigste, der besonnenste Mann ausüben sollte, in das kein Atom von Leidenschaft hineingetragen werden darf, und in dessen Tragen und Ausüben die Welt nur zu leicht Haß, Rache, Verfolgungssucht und so viele häßliche und verächtliche Leidenschaften sucht und findet. Er weiß das Alles, er kennt sich selbst. Wie nahe liegt es, wie natürlich ist es, daß er sich selbst einredet, er erfülle in Allem nur seine Pflicht, eine traurige Pflicht seines schweren Amtes; er erfülle sie ohne jegliche Leidenschaft, und wenn die Welt das Gegentheil behaupten wolle, er könne ruhig sein in dem Bewußtsein, daß er nur einen Eifer kenne, nur von einem Eifer beseelt sei, dem für das Recht. So ist er in der That in seinem Gewissen nur der Mann des strengen und unerbittlichen Rechts, und auch seine Bitte an uns war nicht unbillig; trägt er Schuld – und er trägt sie – machen wir ihn nicht zu schwer verantwortlich dafür.“

„Aber seine arme Frau?“ mußte Herr Milden fragen, der nach allen Seiten hin gutmüthig und mitleidig war.

„Onkel,“ trat sein Neffe an ihn heran, „ich werde in meinem Leben nicht wieder eifersüchtig sein.“

„Ah, Junge, Du siehst also, daß man Herr auch über die Eifersucht werden kann. Warum kann er es denn nicht? Warum quält er die arme Frau zu Tode?“

„Weil es schon zu spät ist!“

„Und weil sie auch vielleicht einige Schuld mit hat, mein Junge,“ fiel Herr Milden ein, der jetzt wieder die Partei des Staatsanwalts glaubte nehmen zu müssen.

Aber da mußte ihm seine Frau entgegentreten.

„Nein,“ rief sie, „sie ist das edelste, das reinste, das treueste Herz von der Welt.“

Herr Milden nahm Niemandes Partei mehr.

[401] „Ah, Emchen,“ fragte Herr Milden, „Du warst so lange mit der blassen Frau allein; zuerst im Wagen, dann hier. Was hat sie Dir Alles erzählt?“

„Nichts!“ sagte Frau Milden.

„Ah, nichts? Sie sollte nicht ihr Herz gegen Dich geöffnet, ausgeschüttet haben?“

„Mit keinem Worte! Das zeigt eben die große, edle Seele dieser Frau. Sie war mit mir allein, mit mir und mit ihrem Herzen, das wahrhaftig schwerer zu tragen hat, als die Herzen Millionen anderer Menschen, die auch schwer genug leiden und dulden müssen – ich erfuhr es nachher, auf einmal, so vollständig; es schmetterte mich selbst nieder –. Sie erkannte die theilnehmende, die verschwiegene, die mütterliche Freundin in mir. Kein Wort der Anklage, kein Wort der Klage nur kam über ihre Lippen. Ich wußte nicht, ob ich mehr Mitleid oder mehr Bewunderung für die Frau haben solle.“

„Und nachher, Emchen? Was war nachher geschehen?“

Frau Milden schwieg.

„Nachher, mein Kind? Hier? Als es Dir auf einmal klar wurde, was ihr Herz drücke? Wer war hier bei Euch gewesen?“

„Fragt mich jetzt nicht. Ich versprach ihr, zu schweigen.“

Die Augen der Braut waren nicht mehr blos feucht, sie standen voll Thränen, und durch die Thränen las man darin die Angst ihres Herzens.

„Es ist mir so bang, Tante, als ob ein Unglück geschähe. Der Mann sah so entsetzlich aus, und auf seiner Stirne stand der Tod, der Mord. Ah, er muß ja so oft gegen die armen Menschen auf das Todesurtheil antragen und wird so nach und nach vertraut mit dem Tode. Tante, wie kann man einen Staatsanwalt heirathen? Aber laß uns gehen, laß uns ihnen folgen. Mir ist, als ob wir die Frau beschützen müßten!“

Sie zog die Tante mit sich fort, und die Anderen folgten ihr. Es war ihnen Allen, als wenn die Angst des reinen Herzens des Mädchens weiter und klarer sähe, als sie es konnten.

Sie kehrten zu dem Gasthofe zurück, der oben auf dem Weißen Stein neben jener Stelle lag, auf welcher man die schönste Aussicht des Berges hatte. Die erste Frage der Braut war nach dem Staatsanwalt und seiner Frau. Sie waren dagewesen, berichtete ein Kellner; aber nur sehr kurze Zeit; dann hatten sie sich wieder entfernt.

„Abgereist?“

„Nein! Sie haben ihre Reisesachen zurückgelassen. Der Herr wünschte, noch erst die Sonne untergehen zu sehen. So gingen sie die Höhe dort hinauf.“

„Und wohin von da weiter?“

„Ich weiß es nicht. Sie müssen auf der andern Seite weiter gegangen sein.“

„Das ist sonderbar!“ sagten die Reisenden sich ansehend.

Ein Mädchen des Hauses sah die bedenklichen, fast betroffenen Gesichter. Sie nahte sich der Frau Milden.

„Die Dame war sehr traurig, als sie gingen. Ich glaube, sie wollte nicht gern mit. Man sah ihr eine so eigene Angst an, und der Herr – ah, gnädige Frau, es wurde mir selbst angst, wenn ich ihn ansah. Ich wäre auch nicht mit ihm gegangen.“

„Siehst Du, Tante?“ sagte die Braut.

„Aber, Kinder,“ rief Herr Milden, „seid Ihr nicht thöricht? Wie sollte der Mann dazu kommen, so aus heiler Haut, für nichts und wider nichts zum Verbrecher zu werden?“

„Seine Leidenschaft,“ sagte der Domherr, „kann Alles auf sich nehmen und tragen, nur sich selbst nicht.“

„Und,“ sagte die Braut, „warum ist er ein Staatsanwalt, der mit dem Leben der Menschen zu spielen gelernt hat? Gott stehe der armen Frau bei! Horch!“ rief sie auf einmal, und sie wurde leichenblaß und zitterte wie Espenlaub.

„Was war das?“ riefen sie Alle, und sie hatten Alle bleiche Gesichter, und ihnen Allen rieselte ein Beben durch die Glieder.

In einiger Entfernung waren zwei Schüsse gefallen, in jener Gegend, aus der sie vor wenigen Minuten gekommen waren.



4. Zwei Flüchtlinge.

Oben auf der spitzen Bergeskuppe lag zwischen dem alten Gemäuer ein einzelner Mensch. Er war bekleidet mit einer groben, grauen Leinwandjacke, wie sie die Sträflinge der Zuchthäuser und Festungen tragen. Seine Gesichtszüge, sein feingebauter Körper zeigten einen Mann der höhern Stände. Sein Gesicht sah blaß, angegriffen aus; die graue Jacke war mit Blut bedeckt. In dem angegriffenen Gesichte las man einen ungebeugten Muth, einen fast wilden Trotz. Den linken Arm trug der Mann in einer Binde. Sie war von weniger grober und weicher grauer Leinwand, jedenfalls aus dem Hemde des Flüchtlings hergestellt; sie war mit Blut bedeckt, wie die Jacke.

Der Mann blickte unmuthig um sich her. Der schönste Anblick, den das Gebirge zu bieten hatte, bot sich ihm da oben dar. [402] Die Steile Wand, der Kuppe gegenüber, lag noch tief unter ihm. Er sah weit über sie hinweg; er sah über alle Berge der Kette hinweg, in die endlose Ebene mit ihren Städten und Dörfern nach der einen, in Gebirge und Waldungen nach den andern Seiten. Aber die Mannigfaltigkeiten und Schönheiten der Natur waren für seinen Unmuth nicht da. Ihn beschäftigte etwas Anderes.

„Wo er bleiben mag! Er muß schon über eine Stunde fort sein. Die Sonne stand noch hoch, als er ging; jetzt wird sie schon bald untergehen. Er glaubte, in kurzer Zeit wieder da zu sein. Wenn ihm ein Unglück begegnet wäre, wenn er den Verfolgern in die Hände gefallen wäre! Teufel! Ich wäre mit ihm verloren. Mit dem verdammten Arme könnte ich mich nicht wehren. O, ich würde es dennoch. Lebend bringen sie mich in jene Löcher nicht zurück. Zuletzt bliebe das Grab da unten?“

Er lag an der abschüssigsten Stelle des Berges; fast so steil, wie die Steile Wand ihm gegenüber, senkte von dem Gemäuer ab die Seite der Kuppe sich hinunter, in den tiefen, dunkeln Abgrund, der den Felsen und die Kuppe von einander trennte. Der Mann mit dem verwundeten Arm brauchte auf der Stelle, an der er lag, sich nur herumzuwerfen, um in die bodenlose Tiefe hinunterzustürzen.

In den Abgrund richteten sich seine Blicke.

„Es wäre ein tiefes Grab – pah, ein desto stilleres, ruhigeres. Es wäre sogar ein romantisches, ein so recht schauerlich romantisches, wie die Romantik der Gräber sein muß. Aber würden sie mir das lassen? Würden sie die Ruhe, den Frieden da unten mir gönnen? Dem Hochverräther? Es wäre ja ein ehrliches Begräbniß da unten. Wie darf ein Mensch ehrlich begraben werden, der die Throne hat umstürzen wollen, wie sie sagen?“

Es stieg Jemand langsam den Berg hinauf. Als man oben auf der Spitze seinen Schritt hören konnte, klatschte er leise in die Hände, um dem Verwundeten zu melden, wer komme. Ein paar Minuten nachher war er oben. Es war ein starker, schöner, blasser Mann mit regelmäßigen, vornehmen Gesichtszügen. Sein Wesen zeigte einen tiefen, melancholischen Ernst, gepaart zugleich mit Klarheit und Besonnenheit und mit einer ruhigen und um so festeren Entschlossenheit. Er war gekleidet wie ein wohlhabender Landmann. Einen ähnlichen Anzug hielt er über den Arm geschlagen. Seine Hände trugen Lebensmittel.

„Stärke Dich zuerst, Golzenbach,“ sagte er zu dem Verwundeten. „Dann kleide ich Dich um.“

„Wo warst Du so lange, Wartenburg?“ fragte ihn der Graf Golzenbach.

„Ich traf nicht sofort die Leute, denen ich mich zeigen durfte.“

„Und Du hast Alles?“

„Wie Du siehst.“

„Auch Waffen?“

„Zwei Pistolen; mehr hatten sie, um nicht Aufsehen zu erregen, nicht anschaffen können.“

„Gieb mir eine von ihnen, Wartenburg. Man kann nicht wissen, was kommt, und ich möchte mein Leben vertheidigen, so lange ich mich rühren kann, mit dem gesunden, wie mit dem gebrochenen Arme. Ist das Ding geladen?“

„Mit einer Kugel.“

Herr von Wartenburg hatte zwei Pistolen hervorgezogen. Er übergab eines davon dem Grafen Golzenbach; das andere behielt er für sich.

„Waren schon Verfolger dagewesen?* fragte der Graf.

„Drei Gensd’armen mit einem Officier sprengten vorbei. Ich sah sie selbst.“

„Teufel, wenn die eine Ahnung davon gehabt hätten, daß ich hier oben war.“

„Sie hatten sie eben nicht.“

„Wartenburg, weißt Du, wer sonst noch hier ist? Gerade jetzt?“

„Wer wäre es?“

„Jener Elende! Unser Verfolger, unser Mörder! Der Staatsanwalt von Rachenberg! Hat je ein Mensch mit mehr Recht einen häßlichen Namen getragen?“

Herr von Wartenburg hatte die Nachricht schweigend aufgenommen.

„Wie, Wartenburg, Du geräthst nicht in Wuth?“

„Und warum?“

„Ueber die Nähe dieses Menschen, der so viel Unheil über uns gebracht hat!“

„Er that seine Schuldigkeit, Golzenbach. Er erfüllte die Pflicht seines Amtes, eine harte zwar –“

Der Verwundete fuhr auf, daß sein kranker Arm ihn schmerzte.

„Pflicht? Schuldigkeit? So nennst Du den Haß, die Rache, die Verfolgungswuth dieses Menschen?“

„Laß uns davon schweigen, Freund,“ sagte Herr von Wartenburg. „Wir sind parteiisch gegen ihn.“

„War er es nicht gegen uns?“

„Er mußte es sein; sein Amt verlangte es so. Und von seinem Amte verlangte es die Ruhe und Ordnung des Staates. Er mußte uns verfolgen, und wir dürfen somit kein Urtheil über ihn fällen. Auch nicht, wenn er in seinem Eifer weiter gegangen ist, als er hätte gehen sollen. Wo hätten wir stehen bleiben können, wenn wir seine Ankläger gewesen wären?“

Der Verwundete fuhr nicht wieder auf.

„Du magst Recht haben, Freund Wartenburg,“ sagte er.

„Ich weiß es nicht. Du bist ein ruhiger, verständiger Mensch. Ich bin es nicht; ich kann, ich will es nicht sein. Ich weiß nur Eins: hätte ich den Burschen in diesem Augenblicke hier – Du hast mir die Waffe da gegeben – in dem Momente, da ich ihn sähe, säß’ ihm die Kugel in der Brust.“

„Du wolltest zum Mörder an ihm werden, Golzenbach?“

„Ist er nicht mein Mörder? Der Deine? Der Verderber so vieler edler Freunde?“

„Laß uns von etwas Anderem sprechen, Golzenbach.“

„Und Du willst nicht einmal erfahren, wo und wie ich ihn gesehen habe?“

„Ich weiß es.“

„Auch Du sahest ihn?“

„Nein, aber –“

„Aber?“

„Ich sah und sprach seine Frau.“

Herr von Wartenburg sprach die Worte mit leiser, fast zitternder Stimme. Graf Golzenbach mußte ihn still ansehen. Der Trotz, die wilde Leidenschaft wichen aus seinem Gesichte. Man las darin Bewunderung für den Mann, mit dem er sprach.

„Reiche mir Deine Hand, Wartenburg,“ sagte er dann, und er drückte herzlich die Hand des Freundes. „Du bist eine edle Seele. Ich wollte, ich könnte es auch sein. Aber erzähle mir von der armen Frau. Vielleicht bessert es mich doch. Wo fandest Du sie? Was sprachst Du mit ihr?“

„Nachher, mein Freund,“ sagte Herr von Wartenburg, dem ein tiefer Schmerz die Brust zerwühlte. „Nur so viel laß mich jetzt Dir sagen: sie ist ein unglückliches Weib; nie sah ich ein unglücklicheres.“

„Und sie wäre mit Dir so glücklich geworden,“ rief der Graf, „und Du mit ihr! Und – o, könnte ich doch dem Elenden den Hirnschädel zerschmettern!“

Und plötzlich fuhr der Verwundete noch einmal auf.

„Da ist er! Sieh, sieh! Und mit ihr!“

Sein Blick war nach der steilen Felsenwand auf der anderen Seite der Schlucht gefallen. Er starrte dorthin. Er konnte das Auge nicht abwenden. Das Auge glühte Haß, Rache, Zorn, Wuth. Er griff krampfhaft nach der Waffe, die er neben sich gelegt hatte.

Auch Herr von Wartenburg hatte hinsehen müssen. Er war überrascht worden. Dann stand er, wie von Angst, wie von tödtlichem Entsetzen ergriffen. An der Steilen Wand waren ein Herr und eine Dame erschienen. Die Flüchtlinge erkannten sie. Sie glaubten, trotz der Entfernung, die Züge der beiden blassen Gesichter zu unterscheiden, die finsteren des einen, die schmerzlichen des anderen. Und die Beiden standen so nahe an dem dunklen, bodenlosen Abgrunde; dicht neben einander, der Mann an der Seite der Frau, die Frau an dem Manne. Eine Bewegung des Einen, eine gegenseitige Berührung konnte den Anderen in die Tiefe stürzen; in der Tiefe war der sichere Tod. Herrn von Wartenburg hatte Entsetzen ergriffen. Selbst den Grafen Golzenbach schien ein Schauder zu durchziehen.

„Er ermordet sie!“ rief er. „Er stürzt sie in den Abgrund.“

„Bist Du wahnsinnig, Mensch?“

„Du denkst es selbst, Wartenburg. Du hast sie vorhin gesprochen, sagst Du?“

„Ich sprach sie.“

„Und er hat es erfahren?“

[403] „Vermuthlich!“

„Sicher! Warum wäre er nochmals hier? Jetzt mit ihr? Vorhin war er ohne sie da, in anderer Gesellschaft. Er hat sich die Stelle besehen. Oder vielleicht warst Du unterdeß gerade bei ihr. War es so?“

„Es war so.“

„Und als er zurückkam, erfuhr er es. Schon das Aussehen der Frau mußte es ihm entdecken. Ich kann es mir denken. Ich sehe die arme, blasse, bebende Frau. Die Wuth, der Wahnsinn seiner wilden Eifersucht ergriff ihn. Er konnte sie verbergen; er hat die volle Gewalt über sein Aeußeres. Er hat das Verderben, den Tod der Frau beschlossen. ‚Es ist so schön an der Steilen Wand,‘ sagte er zu ihr laut, in Gegenwart der Anderen, mit denen er da gewesen war. ‚Schade, daß Du nicht mit da warst, mein Kind. Du mußt noch hin. Komm. Wenn Du eilst, so sehen wir noch gerade dort die Sonne untergehen; man kann keinen prachtvolleren Anblick haben.‘ – So lockte er sie hin. Zweifelst Du? Sieh, da geht gerade die Sonne unter. Und es ist in der That ein Prachtanblick, Wartenburg, und sie haben ihn auch da unten auf dem Felsen, und während die arme Frau in ihn versunken ist und den letzten verschwindenden Strahlen folgt, und dabei an ihre glücklichen Tage denkt, die auch verschwunden sind, schon so lange freilich und auf immer, da facht die letzte Gluth der Sonne die wildeste Gluth in seinem Innern an, und – ein Ruck seiner Hand, und ein Schrei, und sie ist verschwunden –“

„Aber, Mensch, Du bist wahnsinnig – das Wundfieber!“

„Und sie ist verschwunden, sage ich Dir, und er sieht ihr mit den großen, glühenden Augen recht ruhig und genau und scharf nach, um sich zu überzeugen, daß sie wirklich todt ist und nicht wieder herauf kommt, und wenn er davon überzeugt ist, dann fängt er an, sich die Haare ausreißen zu wollen, und erhebt ein Zetergeschrei, das Niemand hört, und ruft um Hülfe, zu der ihm kein Mensch kommt, und rennt zu seiner Gesellschaft zurück, und erzählt das entsetzliche Unglück, das ihm passirt ist – eine unvorsichtige Bewegung der Unglücklichen, und sie war hinuntergestürzt, ehe er sie retten konnte, ehe er es nur gesehen hatte. Und sie glauben ihm! er ist ja Oberstaatsanwalt; und wer will ihm beweisen, daß er der Mörder ist? Und – und sieh, Wartenburg, sieh!“

Er stand stumm. Sie standen Beide sprachlos, mit starrenden und erstarrten Augen. Die Sonne ging unter. Oben auf der Kuppe war der Anblick frei über den ganzen westlichen Horizont. Man sah die volle Pracht, in welcher der mächtige, glühende Körper immer tiefer sank, um dann ganz zu verschwinden. An der Steilen Wand war der Blick in die Ebene beschränkt. Man sah nur einen Fleck, einen schmalen Streifen von ihr, durch den schmalen Zwischenraum, den der vorspringende Felsen auf der einen und die noch weiter vorgeschobene Kuppe auf der anderen Seite bildeten. Und durch diesen schmalen Zwischenraum drangen auf einmal, wie mit einem Zauberschlage, die letzten Strahlen der Sonne; hinten auf jenem schmalen Streifen sah man sie plötzlich aufblitzen, leuchten, glühen, nur einen Augenblick lang.

Es war ein wunderbarer Augenblick! Der Staatsanwalt und seine blasse Frau hatten fast unbeweglich neben einander gestanden. Ihre Mienen, ob sie mit einander gesprochen, hatte man auf der Kuppe in der Entfernung nicht unterscheiden können. Hatten sie den Untergang der Sonne, den reizenden Anblick, der sich ihnen noch darbieten sollte, erwartet? Oder hatte Anderes sie beschäftigt?

Auf einmal streckte der Mann die Hand, den Arm nach der Frau aus. Die Frau flog zurück von dem Rande des Abgrundes bis an die steile Wand des Felsens.

„Was war das?“ rief Graf Golzenbach, „wollte der Bursch sie hinunterstoßen? Sie gewahrte es früh genug, sie entwich ihm. – Aber was ist denn das wieder? Er folgt ihr; sie weicht nicht mehr vor ihm zurück. Sie sieht ihn an. Sie sprechen mit einander, und sie hört ihm zu und antwortet ihm. Will er sie wieder zutraulich machen? Sie steht ruhig da. Sie sieht sich sogar um, von ihm weg. Er braucht nur nach ihr zu langen; sie gewahrt es nicht. Und – heiliger Gott! – Aber wie kann ich den heiligen Gott zu dem Burschen rufen, zu dem nur der Teufel gehört? Und doch – und doch! Heiliger Gott, so stehe denn der armen Frau bei! – Der Mensch hat sie angefaßt! Er geht wieder an den Abgrund! Sie folgt ihm! Er zieht sie, schleppt sie! – Wartenburg, rufe, schreie. Rette das arme Weib! Wenn wir auch darüber zu Grunde gehen! Wenn der Elende auch nicht zum Mörder wird! Rufe ihm zu, daß er Zeugen hat. Ich kann es nicht. Mir versagt die Stimme.“

Herrn von Wartenburg versagte die Stimme wohl nicht.

„Nein, nein!“ sagte er aber, „Du siehst falsch, sprichst im Fieber.“

„Und was sehe ich falsch?“ rief der Andere, „hat er sie nicht gefaßt? Steht er nicht mit ihr unmittelbar an dem Abgrunde? Sieht sie ihn nicht an? Und wie sollte sie ihn ansehen, wenn nicht bittend, bittend um ihr Leben? Und – ha, er läßt sie los! Er läßt den Arm sinken. Er tritt von ihr zurück. Aber er tritt wieder hinter sie. Er streckt den Arm wieder nach ihr aus! Sie beugt sich nach vorn herüber! Sie schwankt – sie – Heiliger Gott! – sie fällt – sie sinkt. Siehst Du sie noch, Wartenburg? Meinen Augen ist sie entschwunden. Aber ich glaube, der Wahnsinn blendet sie mir, faßt mich.“

„Dich nicht!“ sprach die bebende Stimme des Herrn von Wartenburg.

Der besonnene Mann stand unbeweglich leichenblaß; seine Augen starrten nach drüben, nach der Felsenwand, an der die unglückliche Frau nicht mehr zu sehen, in den Abgrund, in dem sie verschwunden war; wieder nach dem Felsen, an dem der finstere Mann ebenfalls leichenblaß und unbeweglich stand. Die Sonne war untergegangen.

„Dich nicht,“ wiederholte er tonlos. „Aber die Unglückliche war von ihm erfaßt.“

„Die Todte? Die Ermordete?“ rief der Andere.

„Todt ist sie –“

„Und gemordet!“

Herr von Wartenburg sah den Grafen an, als wenn er aus einem Traume erwache.

„Gemordet? Von wem?“

„Von dem Elenden – von ihrem eigenen Gatten!

„Nein, nein!“

„Mensch, sahest Du nicht? Hattest Du keine Augen?“

„Aber nicht die Augen des Wahnsinns, mein Freund.“

„Der Wahnsinn hat Dich ergriffen –“

Der leidenschaftliche Mann konnte nicht fortfahren. Die beiden Flüchtlinge hatten an alles Andere, aber nicht an sich, nicht an ihre Sicherheit, nicht an ihre Verfolgung gedacht. Dicht unter ihnen, in dem Gebüsch, das zu ihren Füßen die Bergkuppe bedeckte, war leises Geräusch laut geworden. Sie hatten es nicht gehört. Es war näher gekommen; die Blätter an den Zweigen der Sträucher hatten leise gerauscht; auf dem Moose an dem Boden hatte es gescharrt; sie hatten es nicht wahrgenommen.

Zwei Bewaffnete, zwei Gensdarmen, standen vor ihnen, plötzlich, wie sagenhaft aus dem Berge, aus dem alten Gemäuer herausgewachsen. Sie standen an der Seite des Grafen Golzenbach. Er sah sie und griff nach dem Pistol, das er neben sich liegen hatte; er spannte den Hahn, sprang auf und zielte nach einem der Gensdarmen. Der Gensdarm zielte mit seiner Waffe nach ihm, drückte sie ab, war ihm zuvorgekommen. Der Graf Golzenbach fiel, durch den Schuß in die Brust getroffen. Das Blut spritzte aus der Wunde hoch auf.

Herr von Wartenburg hatte sein Pistol ergriffen, gespannt. Er drückte es ab auf einen der Gensdarmen. Der Schuß ging los; die Kugel riß dem Gensdarmen die Kopfbedeckung fort; der Mann stand unversehrt. Der Flüchtling wollte sich auf ihn werfen, auf die beiden Gensdarmen, den Freund zu befreien.

„Rette Dich, Wartenburg,“ rief der Graf. „Ich habe die Kugel in der Brust, ich sterbe.“

Herr von Wartenburg wollte dennoch zuspringen. An der anderen Seite der Kuppe stiegen zwei andere Gensdarmen herauf. Er besann sich rasch. Zu retten, zu befreien war nichts mehr. Dem sterbenden Freunde die Augen zudrücken? Man hätte ihn nicht einmal zu ihm gelassen. Er flog den Berg hinunter. Schüsse fielen hinter ihm, trafen ihn nicht. Die Gensdarmen setzten ihm nach, erreichten ihn nicht.



5. Ein Blutzeuge und ein Hochverräther.

Es hatte schon angefangen zu dunkeln, als der Wagen der Reisegesellschaft angespannt vor dem Gasthause auf dem Weißen Stein hielt.

„Ob wir noch etwas warten?“ sagte Herr Milden. „Es ist [404] mir so unheimlich. Ich möchte gerne Gewißheit haben. Lange können sie nicht mehr ausbleiben.“

„Wenn sie zurückkommen, Onkel,“ sagte die Braut.

„Denkst Du denn immer noch an das Schlimmste, Kind? Du hast mir die Angst eingejagt.“

„Hm, Onkel, wir haben sie Alle, und auch ohne mich.“

Sie hatte Recht. Auch die Andern standen erwartungsvoll, gespannt, gedrückt; bereit zur Abreise und doch ohne Entschluß dazu. Sie waren in dem offenen Gärtchen, das sich vor dem Gasthause befand. In der Ferne tauchte aus dem Zwiedunkel eine Gestalt hewor.

„Der Staatsanwalt!“ rief Herr Milden, der Alles zuerst sah.

„Und er kommt allein!“

„Ohne seine Frau!“

„Allmächtiger Gott, wo mag er die Frau gelassen haben!“

„Und er geht so langsam, so schwankend.“

„Er sieht aus wie ein Mörder.“

Der Oberstaatsanwalt von Rachenberg kam langsam mit schwankenden Schritten näher; sein Gesicht war geisterbleich. Er sah die Gesellschaft, ging aber an ihr vorüber dem Hause zu. Der Wirth begegnete ihm.

„Ist ein Richter hier in der Nähe?“ fragte er den Mann.

„Das nächste Gericht ist eine Stunde von hier in der Stadt,“ wurde ihm geantwortet; „aber einer der Richter ist zufällig bei mir im Hause.“

„Rufen Sie ihn her.“

Der Wirth ging in das Haus, und der Staatsanwalt ging vor dem Hause auf und ab. Sein Schritt wurde rascher, fester, wieder langsamer. Der Wirth kam mit einem Herrn aus dem Hause. Er stellte den Herrn dem Staatsanwalt vor.

„Der Herr Stadtrichter!“

„Ich bin der Oberstaatsanwalt von Rachenberg, aus der Residenz,“ sagte der Staatsanwalt.

Der Stadtrichter verbeugte sich tief.

„Ich habe Ihnen ein entsetzliches Unglück anzuzeigen,“ fuhr der Staatsanwalt fort. „Es fordert Ihre sofortige amtliche Thätigkeit heraus. Ich machte mit meiner Frau einen Spaziergang zu der Steilen Wand. Wir wollten den Sonnenuntergang dort sehen. Der Fels ist schmal – Sie kennen ihn?“

„Ich kenne ihn, Herr Oberstaatsanwalt.“

„Unmittelbar unter ihm öffnet sich ein tiefer felsiger Abgrund.“

„Ich weiß es, Herr Oberstaatsanwalt.“

„Meine Frau war unvorsichtig. Ich hatte nicht auf sie geachtet. Sie hatte sich zu weit vorgebeugt, das Gleichgewicht verloren. Ein entsetzlicher Angstschrei! Ich sah mich nach ihr um. Sie war hinuntergestürzt. Ich sah sie stürzen. Sie verschwand meinen Blicken.“

Der Staatsanwalt hatte mit langsamer, gemessener fester Stimme gesprochen. Ein Schrei des Entsetzens drang hinter ihm aus der Reisegesellschaft hervor.

„Sie ist gemordet!“ schrie die Braut auf.

Die Andern hatte das Entsetzen stumm gemacht. Der Staatsanwalt fuhr mit seiner ruhigen Stimme zu dem Richter fort: „Ich horchte in die Tiefe hinein, ich vernahm keinen Laut.

Die Unglückliche muß an einem Felsenstück zerschmettert sein, oder ihr Körper ist unten am Boden zerschmettert worden.“

„So kann es nur sein,“ verbeugte sich der Richter.

„Sie werden die Leiche sofort müssen aufsuchen lassen.“

„Ich werde auf der Stelle die nöthigen Befehle dazu ertheilen.“

„Sie werden dann noch heute Abend den Thatbestand feststellen müssen. Ich war allein. Außer mir war kein Zeuge weiter da. Sie werden nur mich zu vernehmen haben. Indeß, ah!“

Er sah sich um nach der Reisegesellschaft. „Mit den Herrschaften waren meine Frau und ich hierhergekommen. Sie werden auch sie vernehmen müssen, über das, was sich zugetragen hat bis zu dem Augenblicke, da ich mich mit meiner Frau von ihnen trennte, um zu der Steilen Wand zu gehen.“ Der Richter verbeugte sich.

„Ich schwöre, daß er sie gemordet hat,“ sagte die Braut.

„Mädchen, willst Du falsch schwören?“

„Können Sie das Gegentheil beschwören, Onkel?“

„Hm, es ist eine fatale Sache! Wir werden jetzt hier bleiben müssen.“

Sie mußten es. Der Richter war an Herrn Milden herangetreten.

„Sie hörten, was ich mit dem Herrn Oberstaatsanwalt sprach.“

„Wir haben es gehört.“

„Und Sie sind bereit? Ihre Vernehmung ist nur eine Formalität, die bald abgemacht sein wird.“

„Hm, es wäre doch die Frage,“ platzte Herr Milden heraus.

„Wie, mein Herr?“

Der kleine, dicke Herr sah fast ängstlich seine Nichte an. Die Braut wollte vortreten, etwas sagen; sie hatte nicht den Muth; sie stand scheu. Der Richter stutzte. Es mochten ihm sonderbare Gedanken durch den Kopf gehen. Der hochstehende Oberstaatsanwalt, der, wie Jedermann wußte, bald noch höher gestellt, als Präsident sein Vorgesetzter, dann gar Chef der Justiz des ganzen Landes werden sollte, dieser strenge, unbeugsame Vertreter des Rechts, dieser als ebenso leidenschaftlich wie hart und mitleidlos verrufene und gefürchtete Verfolger der Verbrecher, dieser Schrecken aller Inquisiten – sollte jetzt auf einmal als Verbrecher in seine Hände fallen, sollte selbst Inquisit werden, sein, des untergeordneten Richters Inquisit! Es war ihm nicht wohl zu Muthe bei dem Gedanken. Er wandte sich mit seinem bedenklichen Gesichte zu dem Herrn von Rachenberg zurück. Der Staatsanwalt war am Hause stehen geblieben. Er mochte halb vernommen haben, was mit dem Richter gesprochen war. Das Andere errieth er aus dessen Gesichtszügen.

„Ich stehe, bis Sie Alles festgestellt haben, zu Ihrer Verfügung,“ sagte er zu dem Richter.

Er sprach es stolz, aber mit einem gedrückten Stolze. Er wollte seine Gestalt aufrichten, sie sank unwillkürlich zusammen.

„Darf ich bitten, daß wir uns sämmtlich in das Haus begeben?“ sagte der Richter.

Er ging mit dem Staalsanwalt in den Gasthof. Die Anderen folgten. Er ließ sich besondere Zimmer anweisen. Dann ertheilte er Befehl zum Aufsuchen der Leiche und wollte nun zur sofortigen Vernehmung der Anwesenden schreiten. Mit dem Verhören des Staatsanwalts mußte er beginnen.

Herr von Rachenberg sah aus wie eine Leiche. Draußen im Zwiedunkel des Gartens hatte man es nur halb wahrnehmen können. Sein Gesicht war erdfahl; die Züge waren verstört, verzerrt; die großen Augen hatten ihren Glanz verloren, sie starrten wie ein Paar erloschene Kohlen. Er hatte sich auf einen Stuhl setzen müssen; er saß da wie ein gebrochener Mann. Man konnte ihn ohne Schrecken, ohne Entsetzen nicht ansehen.

„Darf ich jetzt um Ihre Mittheilungen bitten?“ sagte der Richter zu ihm.

Er wollte antworten, erzählen. Er vermochte es nicht. Alle seine Kräfte hatten ihn plötzlich verlassen, auch die Stimme, die Sprache.

Er mußte sich ermannen, gewaltsam, aber nur auf einen Augenblick.

Der Officier der Gensdarmen, der vorhin in dem Gehölze mit ihm gesprochen hatte, trat in das Zimmer, wandte sich zu ihm.

„Herr Oberstaatsanwalt, meine Leute bringen die Leiche Ihrer Frau Gemahlin.“

Er fuhr krampfhaft auf.

„Wo haben Sie sie gefunden?“

„In der Schlucht da hinten.“

„Und wie, wie?“

„Die Gensdarmen trafen auf die beiden Flüchtlinge aus der Festung. Von dem Einen erfuhren sie –“

Der Staatsanwalt sank in seinen Stuhl zurück. Seine Augen schlossen sich, er konnte nur mit dem Finger auf den Richter zeigen, daß das Weitere mit diesem zu verhandeln sei. Der Richter gab sich dem Officier zu erkennen. Er ordnete dann an, daß die Leiche hereingebracht werde. Zu seinem richterlichen Geschäfte gehörte es, sie von den Anwesenden, die die Todte gekannt hatten, anerkennen zu lassen. Die Unglückliche wurde gebracht. Körper und Gesicht waren zerschmettert. Sie war kaum wieder zu erkennen. Die Thränen derer, die sie gekannt hatten, empfingen sie, auch die Augen der Männer waren naß geworden. Der Staatsanwalt hatte die Augen wieder geöffnet. Er mußte sie fest, mit beiden Händen bedecken. Der Richter sah ihn befremdet, bedenklich, mit Schrecken an.

„Herr Oberstaatsanwalt, es ist die Leiche Ihrer Gattin!“

Der Staatsanwalt konnte sich nicht erheben, nicht den Blick zu der Todten wenden.

„Was wäre das, mein Herr?“

„Ich habe einen Zeugen mit hierher gebracht,“ sagte der Officier zu dem Richter.

[406] „Wer ist es?“

„Der Eine der wiederergriffenen Flüchtlinge. Er will Auskunft über den Tod der Unglücklichen geben.“

„Lassen Sie ihn hereinführen.“

Der Officier verließ das Zimmer. Fieberhaft erregte Blicke folgten ihm. Mit wem sollte er zurückkehren? Mit dem Herrn von Wartenburg? Der Officier kam zurück. Zwei Gensdarmen folgten ihm. Ein schwer Verwundeter wurde von ihnen mehr getragen als geführt. Er glich kaum noch einem Lebenden; seine Brust röchelte. Nur der Staatsanwalt kannte diesen; er wagte nicht aufzublicken. Aber der Verwundete konnte mit Ruhe die Leiche ansehen, mit der Ruhe des Todes, der auch ihn schon angefaßt hatte. Er betrachtete die Todte. Die Brust röchelte ihm stärker. Er warf seine Blicke von der Leiche auf den Gatten der Todten. Eine wilde Gluth leuchtete in seinen Augen.

„Herr Oberstaatsanwalt!“ rief er.

Ein Strom von Blut ergoß sich über seine Lippen. Er konnte nicht weiter sprechen. Er erholte sich.

„Ich soll hier einen Richter finden!“ sagte er.

„Ich bin es,“ trat der Richter vor ihn.

„Herr Richter, ich klage jenen Mann, den Oberstaatsanwalt von Rachenberg, an, seine Gattin, diese arme Todte, gemordet zu haben. Ich war Zeuge der That.“

Von Neuem quoll das Blut aus seinem Munde. In dem Zimmer war Keiner, den nicht das tiefste Entsetzen ergriffen hätte.

Der Staatsanwalt wollte aufspringen. Er vermochte es nicht. Er konnte nur mit dem erdfahlen Gesichte nach dem fürchterlichen Zeugen starren. Der Verwundete erholte sich noch einmal.

„Ihr Name?“ fragte ihn der Richter.

„Graf Golzenbach.“

Also nicht der Herr von Wartenburg? las man auf den Gesichtern im Zimmer. Nicht der Nebenbuhler? Um so glaubwürdiger ist seine Aussage.

„Mein Herr,“ sagte der Richter zu dem Grafen, „ehe Sie weiter reden, bedenken Sie Eins. Sie scheinen schwer, vielleicht tödtlich verwundet. Das Zeugniß eines Sterbenden wiegt doppelt schwer.“

„Ich weiß es,“ erwiderte der Graf, „und ich weiß, daß ich sterben muß, in der nächsten Minute. Ich fühle es. Jener Mann ist der Mörder dieser Frau. Er lockte, er zog sie an den Abgrund. Dann flehte sie noch um ihr Leben. Er stieß sie hinunter, unbarmherzig –“

„Mensch! Ungeheuer!“ rief der Staatsanwalt.

Er war aufgesprungen, zu dem Verwundeten hin, zu dem entsetzlichen Blutzeugen. Zum dritten Male war das Blut über die Lippen des Verwundeten geströmt. Zum dritten Male erholte er sich nicht. Die beiden Gensdarmen, die ihn hielten, hielten eine Leiche.

„Sie kennen das Recht,“ sagte der Richter zu dem Oberstaatsanwalt.

„Ich bin Ihr Gefangener!“

Indem der Oberstaatsanwalt von Rachenberg das sagte, konnte er sich stolz erheben.



Die Untersuchung gegen den Oberstaatsanwalt von Rachenberg wegen Gattenmordes war zu Ende geführt. An seiner Verurtheilung zweifelte Niemand. Seine große Eifersucht, sein leidenschaftlicher Charakter waren bekannt. Wie leicht konnte sie in einem Augenblicke heftiger Aufregung ihn ganz und gar bemeistern, zum Verbrecher machen! Nach den übereinstimmenden und völlig glaubwürdigen Zeugnissen der Reisegesellschaft hatte er in Folge jener mannigfach zusammentreffenden Ereignisse in einer solchen Aufregung sich befunden, daß Alle in ihrem Innern eine entsetzliche That von ihm gegen die unglückliche Frau gefürchtet hatten. Der Graf Golzenbach hatte die That als Augenzeuge bekundet, hatte sein Zeugniß mit seinem Tode besiegelt. Das Leugnen des Angeklagten, wie beharrlich und ruhig er es allen Zeugnissen und Vorhaltungen entgegensetzte, erschien nur um so frecher und verstockter.

Die Anklage war gegen ihn erhoben; der Termin zur öffentlichen Verhandlung vor den Geschworenen war angesetzt. Am Abende vor dem Tage war die Hauptstadt der Provinz, deren Schwurgericht das zuständige war, in großer Aufregung. Die Zeugen waren eingetroffen; mit den Zeugen viele Neugierige. Sie wollten der Verurtheilung beiwohnen. An eine Freisprechung dachte Niemand.

In der letzten Stunde des Abends hatte sich bei dem Präsidenten des Schwurgerichts noch ein Fremder melden lassen. Er habe in dem Processe wichtige Mittheilungen zu machen; er bitte, am nächsten Morgen als erster Zeuge vernommen zu werden; seinen Namen werde er morgen nennen.

Die Verhandlung des Schwurgerichts hatte begonnen. Der Angeklagte war bei dem Leugnen der That verblieben. Der Präsident verkündete, daß ein Zeuge, der sich nicht habe nennen wollen, sich gestellt und wichtige Aufschlüsse zu geben habe. Er befahl, den Zeugen einzuführen. Ein hoher, blasser Mann trat in den Saal. Tiefer Ernst, schwerer Gram lagen auf den edlen Zügen. Niemand im Saal kannte ihn, weder in dem Raume der Zuschauer, noch in dem des Gerichts. Doch zwei Augen hatten ihn erkannt, und sie füllten sich mit Entsetzen.

Der Angeklagte schien vernichtet zu sein, als er den hohen Mann, das ernste, gramvolle Gesicht sah. Sein Stolz, seine Sicherheit hatten ihn mit einem Male verlassen. Er sank auf seinem Platze zusammen, als wenn er mit dem Blicke auf den fremden Zeugen sein Todesurtheil empfangen habe.

„Er giebt sich verloren,“ zischelte es in den Reihen der Zuhörer. „Das ist ein Zeuge seines Mordes, den er nicht geahnt hatte.“

Die Richter dachten dasselbe; sie sprachen es nur nicht aus.

„Ihr Name?“ fragte der Präsident den Fremden.

„Adalbert von Wartenburg!“

Adalbert von Wartenburg! Der Hochverräther! Der zu lebenslänglichem Kerker verurtheilte, aus der Haft entsprungene, seitdem vergeblich mit Steckbriefen verfolgte, in aller Gegend gesuchte Hochverräther! Das war vielleicht der erste Gedanke Aller, als sie den Namen hörten. Er war jetzt da; ein halbes Hundert von Gensdarmen, Gerichts- und Polizeidienern umgab ihn; man brauchte nur eine Hand an ihn zu legen, um ihn in seine lebenslängliche Haft zurückzuführen. Und er hatte sich selbst, völlig freiwillig, aus eigenem Antriebe überliefert.

Aber zu welchem Zwecke? Welches konnte das Motiv sein, das den Mann aus der sicheren Freiheit in die ewige Nacht der Gefangenschaft zurückgeführt hatte? Es war der zweite Gedanke, es war die heiße, brennende Frage Aller.

Aber konnte man noch fragen, wenn man die plötzlich zusammengesunkene, vernichtete Gestalt des Angeklagten ansah? Und wußte nicht Jeder im Saale, wie dieser nämliche Angeklagte früher der eifrige, strenge, der leidenschaftlich, fanatisch strenge Ankläger des Freiherrn von Wartenburg gewesen war, wie er diesen wegen Hochverraths verfolgt, und nicht geruht und alle Mittel, die ihm seine hohe Stellung, sein mit fast unbeschränkter Macht bekleidetes Amt als Staatsanwalt, gegen die Zeugen, gegen die Geschworenen, selbst gegen die Richter gab, in Bewegung gesetzt hatte, um die Verurtheilung des Verfolgten, der nun einmal sein Opfer sein sollte, herbeizuführen? Warum konnte denn dieser Verfolgte, dieser Verurtheilte jetzt zurückgekehrt sein, hier als Zeuge stehen, seine Freiheit, sein Leben zum Opfer bringen?

Ja, der Angeklagte ist verloren! Der Gattenmörder ist dem Schwerte des Scharfrichters verfallen. Er fühlt es selbst schon. Die Blicke, die leise geflüsterten Worte des ganzen Saales sprachen es aus.

„Zeuge von Wartenburg, was haben Sie auszusagen?“ fragte der Präsident den Zeugen.

Die tiefste Stille fieberhafter Spannung wollte nicht den leisesten Ton der Antwort verlieren.

„Ich habe auszusagen,“ antwortete der Zeuge mit ruhiger, fester Stimme, „daß der Angeklagte unschuldig ist an dem Tode, dessen er bezichtigt wird. Seine edle Gattin ist nicht gemordet. Der Zufall, vielleicht eine Unvorsichtigkeit von ihrer Seite, unter allen Umständen ein beklagenswerther Unfall, und nicht ein Verbrechen hat ihren Tod herbeigeführt. Ich war unmittelbarer Augenzeuge.“

Der Angeklagte glaubte aus einem schweren Traume zu erwachen. Die Richter und die Zuhörer meinten wohl, von Gaukelbildern eines wunderbaren Traumes umfangen zu sein.

„Erzählen Sie, Zeuge – auf Ihren Eid!“ sagte der Präsident.

[407] Und der Zeuge erzählte auf seinen Eid, Alles, was er und sein verstorbener Freund und Gefährte, der Graf Golzenbach, von jener Bergkuppe aus an der steilen Felsenwand gesehen, und wie er, der Zeuge, wohl den Zwiespalt gewahrt, der zwischen den Gatten sich erhoben, die Vorwürfe des Mannes, den Gram, den Schmerz, die Verzweiflung der Frau, dann vielleicht vergebliche Betheurungen auf der einen, vergebliche Bitten auf der anderen Seite, dabei auf beiden Seiten nur der Gedanke, nur das Gefühl des schweren, tiefen, unheilbaren Unglücks, und in dem Gedanken und Gefühle das Vergessen alles Anderen, selbst der Todesgefahr, die keinen Fußbreit von ihnen war, das Hineinstürzen in die Gefahr, der Fall der Frau, ihr Tod. – Das Alles hatte er, der Zeuge, mit seinen klaren, sicheren, durch keine Leidenschaft und durch kein Vorurtheil getrübten Augen gesehen. Und er erzählte auch, wie der Graf Golzenbach, eine weniger ruhige Natur, durch die Verfolgung und die Wunden doppelt aufgeregt, alle jene nämlichen Thatsachen ganz anders, in einem völlig entgegengesetzten Sinne aufgefaßt habe, habe auffassen müssen, und wie in Folge seiner zweiten Verwundung die Bilder seiner aufgeregten Phantasie mit jeder der wenigen Minuten bis zu seinem Tode sich mehr und mehr zur festen Gewißheit in seinem Innern gestaltet hatten und hatten gestalten müssen.

Das Zeugniß des Freiherrn von Wartenburg war überzeugend, es enthielt die Freisprechung des Angeklagten. Es war nur noch eine Förmlichkeit, wenn die Geschworenen ihr Nichtschuldig aussprachen, der Präsident die Entbindung des Angeklagten von der Anklage und seine Freiheit verkünden mußte. Es geschah.

Die andern Zeugen hatten gleichfalls um der Förmlichkeit willen kurz noch vernommen werden müssen. Es waren die Reisegefährten des Staatsanwalts von Rachenberg und seiner unglücklichen Frau. Sie sahen den Herrn von Wartenburg, der, wie sie, bis zur Beendigung der Verhandlung in dem Zeugenraume verbleiben mußte. Frau Milden sah ihn wieder. Bittere Thränen entströmten den Augen der edlen Frau, als sie den edlen Mann erkannte. Dann aber konnte kein Auge trocken bleiben, von dem einem Ende des Saales bis zum anderen.

„Herr von Wartenburg,“ mußte der Präsident des Gerichtshofes sich an den Mann wenden, der die edelste Pflicht der Ehre und des Gewissens erfüllt, hatte. „Sie sind wegen Hochverraths zu lebenslänglicher Festungsstrafe verurtheilt?“

„Ja, Herr Präsident.“

„Sie sind aus Ihrer Haft entwichen?“

„Es ist so!“

„Ich muß Sie verhaften und in Ihre Gefangenschaft zurückführen lassen.“

„Ich wußte es!“

Und er ließ sich ruhig verhaften und in seinen Kerker zurückführen.

Er war ein Hochverräther! Er war dennoch ein freier, ein edler Mann.

Und der Oberstaatsanwalt, der ihn dem Kerker überliefert hatte, mußte vernichtet und mit verhülltem Haupte den Sitzungssaal verlassen.