Adasiyyah

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Lage von Adasiyyah im Heiligen Land[1]
Blick auf das Yarmuk-Tal, 1919, Öl auf Leinwand, T.H. Ivers[2]

Adasiyyah,[3] ein kleines Dorf an der jordanisch-israelischen Grenze, gilt in der Bahai-Weltgemeinde als eine wegweisende Innovationsinitiative die simultan ökologische, wirtschaftliche und sozialer Transformation erfolgreich reallisierte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verwandelten dort ansässige Bahá’í-Bauern zusammen mit lokalen Mitarbeitenden karges Brachland in blühende Agrarflächen. Unter der Leitung von Abdu'l-Baha, dem damaligen Oberhaupt der Bahá'í-Gemeinde, führten sie fortschrittliche Anbau- und Bewässerungsmethoden sowie ein faires Entlohnungssystem ein, das die Produktivität deutlich erhöhte und während des Ersten Weltkriegs eine Hungersnot in Nordpalästina abwendete. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Adasiyyah zum Modell für nachhaltige Landwirtschaft und zog internationale Besuchende an. Bedingt durch die arabisch-israelischen Konflikte konnte das Projekt aber nicht fortgeführt werden und geriet in Vergessenheit.

Ausgangslage und Zielsetzung der Initiative

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Mit einer Bevölkerungszahl von ca. 3200[4] liegt Adasiyyah im Gouvernement Irbid im heutigen Jordanien, etwa 3 km Luftlinie von der Grenze zu Israel, im Yarmuk-Tal, südöstlich vom See Genezareth und südlich des Flusses Yarmuk am nördlichen Ende des Jordan.[5] Unter osmanischer Herrschaft wurde die Region von korrupten autokratischen Gouverneuren ausgebeutet, wodurch die Landwirtschaft verfiel, begleitet von Raubzügen durch Einwohner aus der Umgebung. Wie vielerorts im Nahen Osten [Quelle] waren die Arbeitsbedingungen der Bauern ausbeuterisch und erbärmlich. So mussten die Bauern in Adasiyyah, damals Teil des osmanischen Reiches, bis zu 90 % ihrer Erträge an die Grundbesitzer abgeben und das Land verkam zu Brachland [Quelle]. Neben drückender Sommerhitze war Malaria ein Problem. Auch wenn sie erfahrene Landwirte waren, waren die Baháí-Bauern mit den klimatischen Besonderheiten in der Gegend nicht vertraut. Sie waren auf Bitten Abdu’l-Bahas von Zentraliran dorthin ausgewandert, um vor Ort unter seiner Führung mit Einheimischen zusammenzuarbeiten. Unter dieser arabischen und Beduinen-Bevölkerung waren sie Fremdlinge und als Perser keine osmanischen Staatsbürger. Gleichzeitig waren die osmanischen Behörden erpicht darauf, sie für den Kriegseinsatz zu rekrutieren, was Abdu'l-Bahá mit erheblichem, persönlichen Aufwand abwandte. All das war eine erhebliche Belastung für das Team, was Abdu’l-Bahá in einem Gebet, das er für sie offenbart hatte, als „endlose Prüfungen“ bezeichnet und Gott um Unterstützung bittet, dass das Team standhaft bleiben und seine Einheit bewahren möge.[6]

Unter diesen schwierigen Ausgangsbedingungen hatte die Initiative das Ziel, die lokale Wirtschaft zu fördern, Nahrungsmittelsicherheit zu gewährleisten und die moralische sowie fachliche Entwicklung der Bewohner zu unterstützen. Dabei setzte sie auf Selbstorganisation und Eigenverantwortung und ganz besonders auf eigenständiges Handeln. Abdu'l-Bahá verfolgte drei integrierte Ziele, die neben Ökologie und Ökonomie den gesamten Menschen umfassten[7][8][9]:

  • Sicherung der materiellen Eigenständigkeit der Bauern.
  • Förderung ihrer geistigen Fähigkeiten (u. a. Toleranz, Kreativität, Solidarität).
  • Steigerung des Wohlstands für alle Beteiligten und ihre Umgebung.

Die Initiative wurde zu Beginn unter der Führung von Abdu'l-Baha durchgeführt, der das Team zunehmend von seiner Person unabhängig machte.

Kurz zusammengefasst[10] begann Adasiyyah als eine schlanke Initiative mit einer geringen Anfangsinvestition als Zündimpuls[9]. Man fing mit Grundnahrungsmitteln an und baute gleichzeitig Beziehungen zu Nachbargemeinschaften auf. Im weiteren Verlauf bauten die Bauern ihr Portfolio aus, indem sie von resilienten Grundnahrungsmitteln zu höherwertigen Produkten wie Obst und Gemüse diversifizierten, die mehr Bewässerung benötigten. Parallel dazu wurde die Infrastruktur, insbesondere die Bewässerungssysteme, ausgebaut und mit überregionalem Vertrieb begonnen. Gleichzeitig förderten sie die Gemeinschaftsentwicklung durch eine Kultur der Beratung, Gewinnbeteiligung und systematische Bildungsmaßnahmen, um das Leben der Gemeindemitglieder nachhaltig zu verbessern.

Anhand der Literatur über Adasiyyah,[11] die vor dem Hintergrund der Suche nach Lösungen zur Sicherstellung der Nahrungsmittelsicherheit (Klimaverschiebung) immer weiter zunimmt, lassen sich folgende wesentliche Schritte des Wachstums zusammenfassen:

Schlanker Beginn

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Am Anfang arbeiteten die Bauern händisch mit einfachen Werkzeugen. Sie konzentrierten sich auf Grundnahrungsmittel wie Weizen und Gerste. Allmählich steigerten sie ihre Produktivität und konnten Pflüge und Zugtiere einführen. Nach dem Ersten Weltkrieg verhinderte die Gemeinschaft eine Hungersnot, indem sie Getreide von anderen Bauern kauften und es unter den Einheimischen verteilten. Diese Maßnahmen machten Adasiyyah zu einem Vorbild für die landwirtschaftliche Entwicklung.

Dadurch und durch das Schließen von Freundschaften mit den Beduinen in der Umgebung gelang es, die Raubzüge gegen sie zu beenden. Später wurde die Produktion um Auberginen, Kichererbsen, Linsen und verschiedene Gemüsesorten erweitert. Da Obst ergiebiger war und höhere Preise erzielte, ermutigte Abdu’l-Bahá den Anbau von Tafeltrauben, Orangen, Mandarinen, Grapefruits, Bananen und Limetten.

Diversifikation des Angebots, Ausbau Infrastruktur, Steigerung Umsatz und Gewinn

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Ausgehend von diesen Grundnahrungsmitteln erweiterte man die Produktion um resiliente, höherwertige Pflanzen wie Auberginen, später Gersten, Kichererbsen etc., die auf den lokalen Märkten in der Umgebung verkauft wurden. Dazu kam später Obst, da dies höhere Preise erzielte, und sie bauten Zitronen, Tafeltrauben, Orangen, Grapefruit und so weiter an. Ergänzend dazu führten sie die passende Fruchtfolge für die Gegend ein.

Um die Produktion weiter auszubauen, stellten sie die in der Gegend übliche Reihen- auf Beckenbewässerung um. Dies verhinderte die Verdunstung des Wassers vor dem Versickern. Später bauten sie einen Damm über einen Teil des Flusses Jarmo und richteten Bewässerungskanäle ein. Malaria bekämpften sie mit Eukalyptus, der moderndes Wasser absorbiert und damit den Malariamoskitos die Lebensgrundlage entzieht.

So wurden die Bauern autark bezüglich des Nahrungsmittelbedarfs und konnten ihre Erzeugnisse in den weiter umliegenden Städten verkaufen, ihren Materialbedarf abdecken und damit einen Beitrag zur regionalen Wirtschaftsentwicklung leisten.

Entwicklung der Fähigkeiten der Menschen und Gemeinschaft

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Die Einführung dieser in der Gegend neuen landwirtschaftlichen und ökologischen Techniken verstärkte Abdu’lBahá durch einige soziale Innovationen. Sicherlich ist das Herausragendste dabei die Einführung eines Entlohnungssystems, das den Bauern ermöglichte, materiell unabhängig zu werden und ihre moralische Entwicklung förderte: Abdu’l-Bahá gehörte das Land, die Bauern aber planten und führten selbstständig die Arbeiten durch und stellten die Ressourcen (Saatgut, Wasser, Arbeitskräfte). Dabei mussten sie anfangs ein Drittel ihrer Erträge an Abdu’l-Bahá abführen, der später seinen Anteil auf 20 % reduzierte. Dies war radikal anders als das, was im osmanischen Reich üblich war und widersprach den dortigen unmenschlichen Arbeitsbedingungen für Bauern.

Gemeindezentrum von Adasiyyah[12]

Darüber hinaus führte Abdu’l-Bahá eine Kultur der Beratung und gemeinschaftlichen Entscheidungsfindung ein, um die Gruppe von sich unabhängig zu machen. Nach einiger Zeit legte er den Menschen nahe, ihre Probleme ohne ihn in Beratung zu lösen. So konnte 1924 in einer gleichen, demokratischen Wahl der erste Geistige Rat als Organ der Selbstverwaltung gewählt und eingerichtet werden. Dieser setzte einen Landwirtschaftsausschuss ein, der ökologische Fragen von allgemeiner Bedeutung beriet und entschied.

Die demokratische Wahl des geistigen Rates ist durchaus mit einer deutschen wilden Wahl vergleichbar, bei der es keine Kandidatur gibt, sondern die Wählenden den Namen derjenigen Person, die sie für geeignet halten, auf einen Zettel schreiben und in die Wahlurne werfen. Dies wirkte Gruppenbildungen entgegen und ermöglichte offene, von Ideologie losgelöste Problemlösung.

Abdu’l-Bahá warnte die Bauern, dass wenn sie ihre Mitarbeitenden nicht am Gewinn beteiligten, dies zu Frustrationen führe und die Menschen sich ihren Anteil am Gewinn mit Gewalt holten. Dies ist durch jüngste Entwicklungen in manchen Volkswirtschaften zu beobachten: Wenn größere Bevölkerungsschichten ökonomisch zurückfallen, führt dies zur Radikalisierung in der Gesellschaft[13].

Die Gemeinschaft legte großen Wert auf Erziehung und Ausbildung und führte in diesem Sinne systematische, schulische Lehrpläne ein. Das Curriculum umfasste Arabisch, Geographie, Geschichte, Mathematik und Naturwissenschaften. Auch wenn die Bauern persischstämmig waren, förderten sie den Arabischunterricht der Kinder, um sie besser in die Umgebung zu integrieren. Die religiöse Unterweisung in den Bahá’í-Schriften war auch Teil der Schulbildung, wobei man auf die Entwicklung geistiger Fähigkeiten fokussiert war inkl. des praktischen Umsetzens moralischer Werte im Alltagsleben. Es wurde darauf geachtet, dass die Kinder nicht in Bigotterie abglitten[14]. Koedukation gab es nicht. Die schulische Erziehung fand zunächst zu Hause durch die Familie statt, später wurde eine kostenlose Schule mit Lehrern aus der Gemeinschaft und auswärtigen Lehrern eingerichtet. Sie ging von Klasse 1-9 und umfasste für die Interessierten auch weiterführende Klassen.

Zur Förderung des Wohlstandes ermutigte Abdu’l-Bahá die Bauern, den Aufbau aufrichtiger, geschäftlicher Beziehungen und ganz besonders rechtschaffenes Handeln. Er betonte die Bedeutung moralischer Werte im Alltag und Beruf für die Wohlstandsförderung und nahm dabei die Erkenntnis aus heutiger Zeit vorweg, dass die größten Umweltprobleme Egoismus und Apathie sind und nicht das Klima (Quelle). Im Rahmen der Erwachsenenbildung ermutigte man die Erwachsenen, auch neue Anbaumethoden zu erlernen, um die Landwirtschaft und den Fortschritt in der Agrarwirtschaft anzutreiben.

Durch die Arabisch-israelischen Kriege und eine Bodenreform in Jordanien, die den Prinzipien Adasiyyas widersprach, konnten die Erfolge nicht mehr fortgesetzt werden. Viele der Bauern verließen

Abdu'l-Baha mit den Bahai in einem der Haine in Adasiyyah[15]

das Land, kehrten nach Persien zurück und waren dort als Landwirte sehr erfolgreich durch das Know-how und die Erfahrung, die sie gesammelt hatten. Landwirtschaft gibt es heute in Adassiyyah und die Regierung in Jordanien unterstützt die Verbesserung und Instandhaltung der Anlagen, auch diejenigen, die die Bahai angelegt haben. Allerdings stellt dies wegen der schwierigen Beziehung mit den Nachbarn und der fehlenden Stabilität in der Region eine gewisse Herausforderung dar.

Die Weiterführung landwirtschaftlicher Aktivitäten nach dem Weggang der Bahai

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Die Erfolge von Adasiyya konnten durch externe Umstände nicht wie angedacht vor Ort weitergeführt werden. Arabisch-israelische Kriege isolierten die Bauern von ihren Märkten, Angriffe der israelischen Selbstverteidigungskräfte auf die Kanalanlagen,[16] die die Bahá’í-Bauern begonnen hatten, und eine jordanische Landreform entgegen der bewährten Grundprinzipien Adasiyyas war für die Bauern unannehmbar. Viele verließen das Land und waren durch die erworbenen Fähigkeiten an ihrem neuen Lebensmittelpunkt, z. B. in Yazd in Iran, als Landwirte weiterhin sehr erfolgreich. Trotzdem wird heute die Landwirtschaft in Adasiyya fortgeführt und heute bemühen sich lokale Regierungen um Verbesserung und Instandhaltung der Bahá’í-Bewässerungsanlagen,[17] was aufgrund der schwierigen internationalen Beziehungen eine Herausforderung darstellt[18].

Die „Lessons-Learned“ aus Adasiyyah übertrugen die Bahai-Institutionen[19], die die Weltgemeinde als eine lernende Organisation verstehen, in weitere soziale und wirtschaftliche Entwicklungsprogramme, die derzeit an verschiedenen Stellen in der Welt ausgerollt werden. So gelang es ähnlich wie in Adasiyyah fachliche Kompetenzen mit selbstmotivierter Entwicklung geistiger und moralischer Fähigkeiten zu kombinieren, so dass auch andere Gemeinden sich aus ökonomisch nacheilenden Positionen nach vorne entwickelten und ihre wirtschaftliche Lage sowie ihre Lebensqualität verbessern. Diese Reproduzierbarkeit der Erfolge aus Adasiyyah ist u. a. aus Regionen wie Iran, Bolivien, Tansania und Honduras dokumentiert.[20][21]

Charakteristisch für diese Programme ist die simultane Entwicklung der geistigen Fähigkeiten der Menschen zusätzlich zu technischen bzw. landwirtschaftlichen und ökonomischen Innovationen unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Natur und Umwelt. Der Fokus der Bahá’í auf Nachhaltigkeit ergibt sich daraus, dass sie von dem Gründer ihrer Religion, Bahá’u’lláh, aufgefordert sind, zu einer „ständig fortschreitenden Zivilisation“[22] beizutragen[19].

Gründe für die Erfolge

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In der Blütezeit lebten rund 1000 Menschen in Adasiyyah (Quelle). Ökonomisch war sicherlich der größte Erfolg die Beschaffung von Nahrungsmitteln im Umfang von (in damaligen lokalen Einheiten) 200 Kamelladungen, die eine Hungersnot abwandten (Quelle). Stellt man diese Ausbringungsmenge und die Wertsteigerung des Landes durch die Fruchtbarmachung den Anfangsinvestitionen gegenüber, so ergeben sich Amortisationsraten, die von erfolgreichen Startups oder auch Fonds bekannt sind (Quelle). In Adasiyyah gelang es einem Team von Zuwanderern trotz erheblicher Herausforderungen, wie das vorgefundenen rückständige landwirtschaftliche Umfeld und anspruchsvolle klimatische Bedingungen, die lokale Agrarproduktion erheblich zu steigern und eine drohende Hungersnot bei der einheimischen Bevölkerung zu verhindern. Als disruptives Innovationsprojekt etablierte diese Initiative nicht nur zahlreiche Innovationen in den lokalen und regionalen Märkten, sondern transformierte dauerhaft die Agrarpraktiken der Bauern hin zu nachhaltiger Landwirtschaft. Zudem förderte es bedeutende soziale Innovationen innerhalb der Gemeinschaft und in ihrem Umfeld.

Bedingt durch diese Resultate sehen manche die Adasiyya-Initiative als ein „extrem erfolgreiches Experiment“[23] an. Die erfolgreiche Wiedererschließung des Landes, die hohe Produktion, die erweitert um Zukäufe von anderen Landwirten in der Umgebung eine Hungersnot verhinderte, machten Adasiyyah zum „Vorzeigeort der Nation“[8] für erfolgreiche landwirtschaftliche Entwicklung. Wenn die jordanische Regierung den fortschrittlichen Stand des Landes bei Landwirtschaft vorführen wollte, lud sie die Gäste nach Adasiyyah ein. Auch der jordanische König besuchte den Ort[24].

Der ökologische Erfolg lag darin, dass diese massive Produktivitätssteigerung ohne Einsatz von industriellen Methoden (Monokultur, breiter Einsatz von Pestiziden und so weiter) möglich war.[11] Auf der sozialen Seite war der größte Erfolg sicherlich der Aufbau einer nachhaltig funktionierenden Gemeinschaft, die sich um ihre Angelegenheiten in Selbstverwaltung kümmerte. Dies schließt auch die systematische Schulbildung der Jüngeren und die Kompetenzentwicklung der Älteren und Erwachsenen mit ein.

Aus heutiger Sicht ist ein Grund für diesen Erfolg das systematische Adressieren der erfolgskritischen Felder des Innovationsmanagements, wie sie aus modernen Innovations-Management-Frameworks[25] bekannt sind, u. a. strategische Identifikation von Zielmärkten, enge Zusammenarbeit mit Kunden, wissenschaftlich fundierte Entwicklung der fachlichen Bildung und handwerklichen Fähigkeiten der Mitarbeiter. Dieses letztgenannte Humankapital wurde in Adassiyyah durch eigenmotivierten Erwerb von Bildung und eigenständigen Aufbau moralischer Fähigkeiten sehr viel intensiver entwickelt. Die Wirkung dieser Veredelung des Humankapitals ist aus der Entstehungszeit des Protestantismus bekannt und umfangreich untersucht. Damals schärfte Luther, dessen Suche nach Wahrheit zur Bereinigung der christlichen Lehre von späteren Zusätzen von Abdu'l-Bahá gewürdigt wird,[26] seinen Anhängern immer wieder ein, dass sie selbst in der Lage sein müssen, die Bibel zu lesen. U.a. dies hat die ökonomische Entwicklung der Protestanten stark beflügelt.[27][28] Ebenso hatte Adam Smith in seinen grundlegenden Werken auf die grundlegende Bedeutung moralischer Werte für eine gesunde Volkswirtschaft hingewiesen.[29][30]

Relevanz für heute

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In Anbetracht dessen, dass Nahrungsmittelsicherheit sowohl ökologische als auch ökonomische und moralische Herausforderungen mit sich bringt, könnten die Lehren aus Adasiyyah wichtige Ansatzpunkte für Projekte zur gerechten Sicherstellung der Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung bieten. Dies gilt besonders in einem weltweit zunehmend klimatisch schwierigen Umfeld, das zu sich verschärfenden Ertragsproblemen in der Landwirtschaft[31] und verstärkter Inflation der Lebensmittelpreise[32] führt und bei dem konventionelle Ansätze der Förderung der Landwirtschaft zunehmend an ihre Grenzen kommen.[33]

Einige dieser Trends sich nicht neu! So ist seit den 1970ern bekannt, dass sich mit steigender Industrialisierung in der Landwirtschaft das Verhältnis der eingesetzten Energiemenge zu der Energiemenge der produzierten Lebensmittel verschlechtert. Während beim Nassanbau von Reis in China eine Kilokalorie eingesetzte Energie 50 Kilokalorien liefert, ist dies bei der industriellen Landwirtschaft in den USA umgekehrt: dort liefern 20 eingesetzte Kalorien eine Kalorie in der Ernte,[34] was sich u. a. in Höfesterben[35] und aktuellen Bauernprotesten[36][37] ausdrückt.[38]

Der in Adasiyyah verfolgte Ansatz war systemisch. Er vereinte Ökonomie, Ökologie und Spiritualität: Im Einklang mit den Regeln der Natur, die materiellen Bedürfnisse der Menschen im Blick, ohne dabei die Entwicklung ihrer geistigen Fähigkeiten (von der Reinigung der Motivation in stillem täglichen Gebet bis hin zu kollektiver Beratung und Entscheidung) aus den Augen zu lassen(Quelle). Etliche ökologische und ökonomische Ansätze, die sich in Adasiyyah bewährt haben, finden sich in jüngsten Publikationen zur Durchführung ökologischer Initiativen zur Nahrungsmittelsicherheit: der Marburger Aktionsplan für zukunftsfeste Ernährungssysteme in Europa,[39] die Website[40] des Leibniz-Zentrums für Agrarlandschaftsforschung über die Neuerfindung der Landwirtschaft, die Studie der Boston Consulting Group und des NABU über regenerative Landwirtschaft[41] sowie die der Robert Bosch Stiftung über lokale Agrarinitiativen.[42]

Die Erfahrung aus Adasiyyah ist in einem Punkt bahnbrechend: Religion wirkt sich positiv auf die Innovationskraft der Gesellschaft und den Wohlstand aus, wenn sie selbständig und weltoffen gelebt wird, von dogmatischen Schranken befreit ist und sich mit Wissenschaft und praktischem Handeln verbindet. Wird Religion hingegen auf blindes Erfüllen von Riten vergangener Generationen reduziert, wirkt sie sich innovationshemmend aus. Diesen Sachverhalt hatte Abdu'l-Bahá bereits 1910 veröffentlicht[43] und am Beispiel der jüdischen Geschichte gezeigt, wie

„wahre Religion Kultur und Würde, Wohlstand und Ansehen, Bildung und Fortschritt eines vormals elenden, unwissenden und versklavten Volkes fördert und wie der Gottesglauben, wenn er törichten, fanatischen Religionsführern in die Hände fällt, auf schlimme Art missbraucht wird, bis sich diese höchste Pracht in schwarzes Dunkel verwandelt.“
– Abdu'l-Baha: Das Geheimnis göttlicher Kultur, 1875[44]

Aus heutiger Sicht kann die von ihm geleitete Initiative in Adasiyyah als ein erfolgreiches Proof of Concept für seine These angesehen werden.[45] Später griff der iranische Religionshistoriker, Abu'l-Fadl Guypaygani, diese Frage in einer umfassenden historisch-exegetischen Untersuchung auf und zeigte dieses Muster für die drei großen Religionen im Orient, Judentum, Christentum, Islam, auf[46]. Damit lieferte er den exegetischen Hintergrund zu den Arbeiten von Max Weber, der als Zeitgenosse von Adasiyyah auch einen Zusammenhang zwischen Religion und Wohlstand festgestellt hatte und von einer protestantischen Ethik sprach, die Wohlstand fördert und auf die der Kapitalismus aufbaut. Diese entgegengesetzte Wirkung der Religion auf Innovation und Wohlstand, je nachdem wie sie gelebt wird, bestätigen jüngere Studien der Universitäten Luzern, Leipzig und des Ifo-Instituts der Universität München ebenso wie Untersuchungen zum gesellschaftlichen Wandel durch das frühe Christentum aus Berlin, Princeton und Yale.[43] Jüngere empirische Arbeiten zur Bildungsökonomik fassen diese Ergebnisse mit Hilfe der Theorie des Humankapitals zusammen[47].

  • Poostchi, Iraj: 'Adasiyyah: A Study in Agricultural and Rual Development, Baha'i Studies Review, Volume 16, Issue 1, Apr 2010, S. 61–105, doi:10.1386/bsr.16.61/7
  • Hanley, Paul: Basic Notes on Organic Gardening in Saskatchewan, University of Regina, Regina, Saskatchewan, 1978
  • Hanley, Paul (ed.): The Spirit of Agriculture, Bahai Studies Series, George Ronald, Oxford 2005, rezensiert in Journal of Bahá'í Studies durch Arthur Dahl, zuletzt aufgerufen am 27. Mai 2024
  • Hanley, Paul: Begin with the Village – The Bahá’í Approach to Rural Development, The Bahai World, THURSDAY MAY 23, 2019, zusammenfassend wiedergegeben in https://news.bahai.org/story/1331/
  • Hanley, Paul: Adasiyyih – The Story of ‘Abdu’l-Baha's Model Farming Community, Bahá'í Publishing, Evanston Illinois, ISBN 978-1-61851-246-8
  • The Earthcare Group: Ecological Agriculture in Saskatchewan, Wynyard, Saskatchewan 1980.
  • Friedrich Walcher, Ulrich Wöhrl: Measuring Innovation Performance in Gunther Friedl, Horst J. Kayser: Valuing Corporate Innovation, Springer International Publishing, Berlin, 2018, ISBN 978-3-319-64863-7
  • Rassekh: Four Central Theories of the Market Economy, Conception, Evolution and Application. 1. Auflage. Routledge, Oxon 2016, ISBN 978-1-315-54310-9 (Akademische Publikation mit detaillierter Analyse auch für andere grundlegende ökonomische Theorien)

Einzelnachweise

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  1. The Utterance Project. Abgerufen am 24. Juni 2024.
  2. The mouth of the Yarmuk (Jarmak) Gorge at its junction with the valley of Jordan. Abgerufen am 27. Juni 2024 (englisch).
  3. Arabisch transkribiert nach der Bahai-Schreibweise, die sich auch in Google-Maps findet. Es gibt auch die Schreibweise ‘Adasíyyih (persifiziert von ‘Adasíyyah). Beide entsprechen der Bahai-Schreibweise. Das ' am Anfang für den Stimmabsatz 'ain kann weggelassen werden.
  4. Al-'Adasiyah, auf citypopulation.de
  5. Iradj Poostchi: Adasiyyah. S. 62 (32° 39'54'N und 35° 36'47).
  6. A Prayer of Abdu’l-Baha for the Baha’is of Adasiyyih, auf adibmasumian.com
  7. Artikel in perspektivenwechsel-blog (erscheint vorauss in Juli'24)
  8. a b Poostchi: 'Adasiyyah. S. 103.
  9. a b Hanley: Begin with the Village, unter 3 socio-economic development.
  10. Culinary Cures - The Perfect Teacher of Regenerative Agriculture. Abgerufen am 28. Juni 2024.
  11. a b Hanley:: Adasiyyih. S. XXX.
  12. Poostchi: Adasiyyah - a Study, Seite 76
  13. Die Bereicherung weniger und das wirtschaftliche Zurückfallen großer Gruppen diskreditiert die bestehende Ordnung und spielt Populisten zu. Nicht nur in Europa, sondern weltweit. Ausgerechnet der Finanzinfodient Bloomberg,wahrlich keine “linke” Publikation, bestätigt diese Warnung Abdu’l-Bahás in klaren Worten in Mexico Landslide Election Result Comes With a Warning, in dem es heißt: “Wenn eine weitgehend benachteiligte Mehrheit jahrzehntelang wirtschaftlich an den Rand gedrängt wird, während die wenigen Auserwählten enorme Gewinne erzielen, kann man davon ausgehen, dass sich das irgendwann ändern wird.” Der Artikel führt Venezuela als weiteres Beispiel an. Wirtschaftliche Verarmung breiter Bevölkerungsschichten bildet oft den Ausgangspunkt für Revolutionen, von Frankreich zu Beginn der Neuzeit bis in den Iran in der Moderne. Das Universale Haus der Gerechtigkeit macht deutlich, dass das untragbare Ungleichgewicht in der Verteilung des Wohlstands die bestehende Ordnung in den Augen der Menschen in Frage stellt. Rechts- und Linkspopulisten machen sich diese kollektive Frustration zu Nutze, um an die Macht zu ergreifen (siehe z. B. die Untersuchungen des weltgrößten Hedgefonds, Bridgewater). Wenn Populisten an die Macht kommen, wird aber die wirtschaftliche Entwicklung noch schlechter, und die Anhänger der Populisten verarmen noch weiter, was auch durch eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft bestätigt
  14. siehe Botschaften aus Akka, 6:27 : Religiöse Erziehung "muss in solchem Maß geschehen, dass es die Kinder nicht durch Abgleiten in eifernde, bigotte Unwissenheit schädigt.”
  15. Poostchi: Adasiyyah - a Study, Seite 76
  16. 1969: Fifty Years Ago: Israeli planes downed. In: From The Past Pages Of Dawn. Dawn News Paper, gegründet von Muhammad Ali Jinnah. Gilt als liberale Tageszeitung, abgerufen am 2. Juni 2024 (englisch).
  17. siehe dazu Development of Workable Solutions for Graywater Reuse in Jordan zuletzt aufgerufen am 27. Mai 2024.
  18. Rolf Schwarz: The Israeli-Jordanian Water Regime: | A Model for Resolving Water Conflicts in the Jordan River Basin? siehe dazu besonders: The water issue in the Israeli-Jordanian Peace Treaty,Schwarz et al., S. 44. Zuletzt aufgerufen am 27. Mai 2024
  19. a b Hanley: Beginn with the Village. S. Abschnitt Sustainability.
  20. Das [Universale Haus der Gerechtigkeit Universales|Haus der Gerechtigkeit] würdigt in seiner Botschaft vom 28.11.2023die Wirkung der Initiative über die Grenze von Adasiyyah hinaus.
  21. siehe z. B. Momen, Moojan. (2009) in Social and Economic Development in an Iranian Village: The Baha'i Community of Saysan. Zuletzt aufgerufen am 27. Mai 2024. Für weitere Beispiele: Hanley: Spirit of Agriculture, S. 197 ff.
  22. Bahá’u’lláh, Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs, Auflage 10.01-online (2023-11-07), bibliothek.bahai.de, Bahá’í Verlag 2023. Abschnitt 109:2
  23. Seeding Sustainability, 01.10.2024. In: The Official Site of the Bahá'í Community of Ottawa, Ontario, Canada. Abgerufen am 2. Mai 2024.
  24. https://www.middleeastmonitor.com/20211012-bahai-spouses-of-jordanians-are-not-eligible-for-naturalisation/
  25. So z. B. das Innovation Benchmarking der Siemens AG, auszugsweise veröffentlicht in Friedrich Walcher, Ulrich Wöhrl: Measuring Innovation Performance, Seite 100. Insbesondere handelt es sich um die Felder Strategy, Technology, Processes, Skills und Culture. Die letzten beiden betreffen das Humankapital und werden im Bahá'í-Ansatz deutlich stärker akzentuiert, wie Adasiyya dokumentiert bei Poostchi und v. a. Henley zeigt.
  26. Abdu'l-Bahá: Geheimnis Göttlicher Kultur. Hrsg.: Bahá'í-Verlag. Auflage 5.01-online (2023-04-24). Hofheim 24. April 2023, S. 77 (bahai.de).
  27. Was Weber Wrong? A Human Capital Theory of Protestant Economic History. In: The Quarterly Journal of Economics,. Volume 124, Issue 2. Oxford University Press, Mai 2009, ISSN 1531-4650, S. 531–596 (oup.com).
  28. Wössmann et al.: Religion in Economic History: A Survey. In: CESifo Working Paper Series 8365, CESifo. (cesifo.org).
  29. Farhad Rassekh: The Bahá'í Faith and Market Economy. In: Association for Bahá'í Studies (Hrsg.): Journal of Bahá'í Studies. Volume, 11, Nr 3-4. Ottawa (Canada) 2001.
  30. Farhad Rassekh: Four Central Theories of the Market Economy: Conception, evolution and application. 1. Auflage. Routledge, Oxon 2016, ISBN 978-1-315-54310-9 (Enthält eine detaillierte Analyse in einer akademischen Publikation auch für andere grundlegende ökonomische Theorien).
  31. Climate Change Is Threatening Food Staples. Just Look at Tomatoes auf bloomberg.com oder The coming food catastrophe, auf economist.com
  32. Anne Margarian: Nahrungsmittelpreisinflation unter der Lupe: Die Preisentwicklung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Nahrungsmitteln im sektoralen und gesamtwirtschaftlichen Kontext (PDF; 1,6 MB), auf literatur.thuenen.de
  33. Weltweit sehen sich die Bauern ähnlichen Herausforderungen gegenübergestellt. Eine Zusammenstellung findet sich unter: Farmers Vent From Paris to Delhi Amid Threats to Their Income, auf bloomberg.com
  34. Jeff Cox: Factory Farming is Not Efficient, in Organic Gardening and Farming, June 1973
  35. Bartholomäus Grill: Bauernsterben - Wie die globale Agrarindustrie unsere Lebensgrundlagen zerstört. 1. Auflage. Gütersloh 2023, ISBN 978-3-8275-0168-4.
  36. Gastbeitrag von Gabor Steingart: Sie verstehen die Bauern-Wut nicht? Dann sollten Sie diese 7 Punkte kennen. In: Focus online. 16. Januar 2024, abgerufen am 1. Juni 2024.
  37. Für eine detailliertere Darstellung aus ökonomischer Sicht siehe: Agrarians at the Gate Lead the Revolt Against Olaf Scholz, auf bloomberg.com
  38. Beginn with the Village, das von "three things that, if replicated, would greatly contribute to the development of rural areas and the world" spricht. Hanley ist erfahrener ökologischer Landwirt und Autor von mehr als 1000 Büchern und Artikeln über ökologische Landwirtschaft und ihre geistig-moralischen Grundlagen. Er hat bereits in den 70ern mit ökologischen Initiativen in Canada (Earth Care) begonnen und auf Basis seiner Erfahrung Kurse an der [Universität von Regina|University of Regina] in Regina und Saskatoon, Saskatchewan, Kanada gehalten. Einige seiner Veröffentlichungen sind mit Preisen ausgezeichnet. Zu seinem Werk über den Forstwissenschaftler und Umweltaktivisten Richard St. Barbe Baker haben die Verhaltensforscherin Jane Goodall und König Charles III ein Geleitwort beigesteuert s. dazu seine Kurzbiographie
  39. Marburger Aktionsplan für zukunftsfeste Ernährungssysteme in Europa (PDF), auf arc2020.eu
  40. Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) e. V., auf zalf.de
  41. Der Weg Zu Regenerativer Landwirtschaft in Deutschland – Und Darüber Hinaus, auf bcg.com
  42. Unsere Ernährung in die Hand nehmen!, auf bosch-stiftung.de
  43. a b s. dazu Arten der Religiosität und ihre Wirkung auf Innovation und ganz besonders Protestantismus und Innovation - was lernen wir daraus? (beide auf auf religionalsinnovation.de) für eine Gegenüberstellung der Arbeiten von Max Weber und Abu’l-Fadl, die zeigt, wie diese sich komplementieren.
  44. Abdu'l-Bahá: Das Geheimnis göttlicher Kultur, Bahá’í-Verlag Oberkalbach 1973, ISBN 3-87037-060-2, Abschnitt 143
  45. perspektivenwechsel-blog.de in Vorbereitung (Juli 2024)
  46. Mírzá Abu'l-Faḍl-i-Gulpáygání: Kitábu'l-Fará'id. Bahá'í-Verlag, Langenhain 2001 (Online (Memento des Originals vom 21. Januar 2021 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/bahailib.com), S. 167–227.
  47. Was Weber Wrong? A Human Capital Theory of Protestant Economic History. In: The Quarterly Journal of Economics,. Volume 124, Issue 2. Oxford University Press, Mai 2009, ISSN 1531-4650, S. 531–596 (www.oup.com).