[go: up one dir, main page]
More Web Proxy on the site http://driver.im/
Lade Inhalt...

Fehlentscheidungen in der Strafjustiz – Wenn die Rechtsprechung Unrecht spricht

Eine Analyse der „klassischen“ und „modernen“ Fehlerquellen strafrechtlicher Fehlentscheidungen sowie der Möglichkeiten für deren künftige Vermeidung

von Marius Braun (Autor:in)
Dissertation 568 Seiten

Zusammenfassung

Fehlentscheidungen sind seit jeher Bestandteil von Rechtsprechung. Sie haben jedoch in keinem anderen Rechtsgebiet derart schwere Auswirkungen auf Betroffene wie im Strafrecht. Gleichwohl stagnierte die Forschung in den letzten Jahrzehnten, das Phänomen wurde regelmäßig nur thematisiert, wenn es zu einem öffentlich-medial erörterten Fall kam. In der Studie widmet sich der Autor zunächst der Begrifflichkeit der Fehlentscheidung sowie einer Bestimmung der Häufigkeit ihres Vorkommens. Anhand zentraler Studien des vergangenen Jahrhunderts werden die „klassischen" Fehlerquellen beleuchtet, bevor auf „moderne" Ursachen eingegangen wird, welche aufgrund des Wandels des Strafprozesses in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen haben. Einen Praxisbezug leisten Experteninterviews mit Berliner Richtern und Strafverteidigern. Auf Grundlage der Vorauswertung werden schließlich Möglichkeiten diskutiert, wie man Fehlentscheidungen in Zukunft vermeiden oder jedenfalls minimieren kann.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Kapitel 1: Einleitung, Begriffsbestimmung und theoretische Vorüberlegungen
  • A. EINLEITUNG
  • I. Problemdarstellung
  • II. Methodik
  • B. BEGRIFFSBESTIMMUNG: WAS IST EINE FEHLENTSCHEIDUNG?
  • I. Ausgangspunkt
  • II. Auseinandersetzung mit dem Teilbegriff „-Entscheidung“
  • 1. Ausgangspunkt
  • 2. Besteht das Erfordernis der Rechtskraft bei einem Fehlurteil?
  • III. Auseinandersetzung mit dem Teilbegriff „Fehl-“
  • 1. Die „Falschheit“ auf Ebene der Sachverhaltsfeststellung und der Rechtsanwendung
  • a. Die Ebene der Sachverhaltsfeststellung
  • aa. Anknüpfungspunkt
  • bb. Der Rückzug vom Ziel der materiellen Wahrheitsfindung
  • (1) Gesetzliche Gründe des Rückzugs vom Ziel der materiellen Wahrheitsfindung
  • (2) Tatsächliche Gründe des Rückzugs vom Ziel der materiellen Wahrheitsfindung
  • (3) Die materielle Wahrheitsfindung potentiell gefährdende Vorschriften
  • (4) Zwischenergebnis
  • cc. Die forensische Wahrheit
  • dd. Sachlicher Bezugspunkt der Falschheit
  • b. Die Ebene der Rechtsanwendung
  • aa. Subsumtions-, Strafzumessungs- und Verfahrensfehler
  • bb. Exkurs: Historischer Anknüpfungspunkt bei Rechtsänderungen
  • c. Zusammenfassung
  • 2. Fehlentscheidungen zu Lasten und zugunsten des Betroffenen?
  • 3. Können Freisprüche im Einzelnen Fehlurteile sein?
  • a. Freisprüche auf Grundlage von „in dubio pro reo“
  • b. Besondere Konstellationen im Zusammenhang mit Freisprüchen
  • aa. (Forensisch) Richtiger Freispruch bei falschem Freispruchgrund
  • bb. Im Einzelfall belastende Urteilsfeststellungen
  • c. Zwischenergebnis
  • 4. Muss der Fehler kausal für die Entscheidung sein?
  • 5. Muss ein Fehler vermeidbar sein?
  • a. Der Grundsatz der Vermeidbarkeit
  • b. Beurteilung der (relativen) Vermeidbarkeit im historischen Kontext
  • IV. Abgrenzung des Fehlurteils vom Justizirrtum und vom sog. Skandalurteil
  • 1. Der Justizirrtum
  • 2. Das Skandalurteil
  • V. Zusammenfassung
  • C. EMPIRISCHEN ERKENNTNISSE ZUM FEHLENTSCHEIDUNGSVORKOMMEN
  • I. Historische Schätzungen zum Vorkommen von Fehlentscheidungen
  • II. Moderne Schätzungen der Häufigkeit eines fehlerhaften Judikats
  • III. Kritische Auseinandersetzung mit vorhandenen Daten und erhobenen Studien
  • 1. Vorhandene Daten der Statistik Rechtspflege Strafgerichte zum Erfolg der Rechtsmittel Berufung und Revision und der Jahresstatistik über den Geschäftsgang bei den Strafsenaten des Bundesgerichtshofs
  • a. Berufungen
  • b. Revisionen
  • c. Zwischenergebnis
  • 2. Vorhandene Daten der Jahresstatistik über den Geschäftsgang bei den Strafsenaten des Bundesgerichtshofs
  • 3. Vorhandene Daten zum Wiederaufnahmeverfahren
  • 4. Untersuchung der Daten über erbrachte Entschädigungen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen nach Böhme
  • a. Ausgangspunkt
  • b. Auswertung der fortgeführten Statistik über erbrachte Entschädigungen gemäß § 1 StrEG durch Böhme von 1995–2014
  • c. Repräsentative Aussagekraft der Erhebung von Böhme
  • d. Zwischenergebnis
  • IV. Zusammenfassung
  • D. STATUS QUO DER SICHERUNGSMECHANISMEN ZUR PRÄVENTIVEN VERMEIDUNG UND ZUR NACHTRÄGLICHEN KORREKTUR VON STRAFGERICHTLICHEN FEHLENTSCHEIDUNGEN
  • I. Vorhandene Sicherungsmechanismen zur präventiven Vermeidung strafgerichtlicher Fehlentscheidungen
  • 1. Die Ausschließung und Ablehnung einer Gerichtsperson, gem. §§ 22 ff. StPO
  • 2. Die Wahrheits- und Eidespflicht von Zeugen, sachverständigen Zeugen und Sachverständigen gem. §§ 48, 57, 59, 72, 79, 85 StPO
  • 3. Einzelne Verteidigungsrechte und Aufklärungspflichten
  • II. Vorhandene Sicherungsmechanismen zur nachträglichen Korrektur von strafgerichtlichen Fehlurteilen
  • 1. Die ordentlichen Rechtsbehelfe
  • a. Die Rechtsmittel
  • aa. Die Beschwerde
  • bb. Die Berufung
  • cc. Die Revision
  • b. Die sonstigen ordentlichen Rechtsbehelfe
  • aa. Der Einspruch gegen den Strafbefehl, §§ 410 f. StPO
  • bb. Der Zwischenrechtsbehelf, § 238 Abs. 2 StPO
  • 2. Die außerordentlichen Rechtsbehelfe
  • a. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, § 44 ff. StPO
  • b. Die Anträge auf Nachverfahren
  • c. Anträge auf Entscheidung des Rechtsmittelgerichts
  • d. Die Wiederaufnahme des Verfahrens, §§ 359 ff. StPO
  • 3. Exkurs: Korrekturmöglichkeiten außerhalb der Strafprozessordnung
  • III. Sicherungsmechanismen zur Gewährung eines verfahrensförmigen Ablaufs des Strafverfahrens
  • IV. Zusammenfassung
  • Kapitel 2: Die „klassischen“ Fehlerquellen
  • A. DIE „KLASSISCHEN“ FEHLERQUELLEN NACH ALSBERG, HIRSCHBERG, KIWIT UND PETERS
  • I. Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme (1913)
  • 1. Überblick und Methodik
  • 2. Fehlerquellen
  • a. Allgemeine „strafprozessuale“ Fehlerquellen
  • aa. Das Mündlichkeitsprinzip als Ursache gerichtlicher Übereilung
  • bb. Die Vernehmung des Angeklagten unter „Ausschaltung seiner Darstellung“
  • cc. Fehlender Rechtsbehelf des Angeklagten gegen eine unzureichende Anklageschrift; Gefahren im Zusammenhang mit der Änderung der Anklage
  • dd. Die Nichterhebung von Entlastungsbeweisen aufgrund der Unkenntnis des Angeklagten vom Beweisantragsrecht
  • ee. Die „Überspannung“ der freien richterlichen Beweiswürdigung
  • ff. Die fehlerhafte Sachverhaltsfeststellung aufgrund der Zeugenbeweisschwäche
  • b. Schwächen des bestehenden Rechtsmittelrechts
  • c. „Der begrenzte Wert“ der Wiederaufnahme des Verfahrens
  • aa. normative Schwächen
  • (1) Geringe praktische Bedeutung aufgrund restriktiver Wiederaufnahmegründe
  • (2) Das Erfordernis „neuer“ Tatsachen und Beweismittel i.S.v. § 359 Nr. 5 StPO
  • (3) Der Ausschluss der Wiederaufnahme zum Zwecke der Strafmilderung bei Anwendung desselben Gesetzes
  • (4) Zu kurze Beschwerdefrist
  • (5) Die unterlegende Stellung des Antragsstellers und die erschwerte Beweisführung, dass das beigebrachte Material neu und wesentlich ist
  • bb. Praktische Schwächen
  • (1) Die Abneigung der Gerichte gegen die Wiederaufnahme im Allgemeinen
  • (2) Die strengen praktischen Anforderungen an die „Neuheit“ des Beweismittels
  • (3) Die Abhängigkeit einer Wiederaufnahme wegen falscher Zeugenaussagen von einer rechtskräftigen Verurteilung
  • 3. Zusammenfassung und Würdigung
  • II. Hirschberg, Das Fehlurteil im Strafprozeß (1960)
  • 1. Überblick und Methodik
  • 2. Fehlerquellen
  • a. Menschliche Fehlerquellen
  • aa. Unkritische Bewertung von Geständnissen
  • bb. Unkritische Bewertung der Belastung durch Mitangeklagte
  • cc. Unkritische Bewertung von Zeugenaussagen
  • dd. Falsches Wiedererkennen des Täters
  • ee. Die Lüge als Schuldbeweis
  • ff. Unkritisches Bewerten von Sachverständigengutachten
  • gg. Mangelhafte richterliche Überzeugungsbildung
  • (1) Urteilsfindung anhand von Wahrscheinlichkeit anstatt Gewissheit
  • (2) Fehlendes (kriminal-)psychologisches Bewusstsein und „Arbeitshetze“
  • b. Mängel des Gesetzes als Fehlerquellen
  • aa. Die Vorbefassung des Richters
  • bb. Die fehlende Waffengleichheit zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung
  • cc. Die Fehlende zweite Tatsacheninstanz gegen Urteile des LG und des OLG
  • dd. Mängel des Wiederaufnahmeverfahrens
  • 3. Zusammenfassung und Würdigung
  • III. Kiwit, Fehlurteile im Strafrecht (1965)
  • 1. Überblick und Methodik
  • 2. Fehlerquellen
  • a. Fehlende und fehlerhafte Beweismittel bzw. deren fehlerhafte Auswertung
  • aa. falscher Personalbeweis
  • bb. falscher Sachverständigenbeweis
  • cc. Fehlerhafte Auswertung von Beweismitteln
  • dd. Fehlerhafte Auswertung von Indizien
  • b. Fehlerhafte Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten
  • c. Verstöße gegen das Verbot ungesicherter Überzeugungsbildung und fehlerhafte bzw. unterlassende Anwendung des „in dubio pro reo“-Grundsatzes
  • d. Fehlende zweite Tatsacheninstanz bei erstinstanzlichen Verfahren des LG und OLG
  • 3. Zusammenfassung und Würdigung
  • IV. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß
  • 1. Überblick und Methodik
  • 2. Fehlerquellen
  • a. Auswertung der „Hauptprobleme“ anhand des Fallverzeichnisses
  • b. Fehlerquellen nach Peters im Einzelnen
  • aa. Personalbeweis
  • (1) Der Beschuldigte
  • (2) Der Mitbeschuldigte
  • (3). Der Zeuge
  • (4) Der Sachverständige
  • (a) Der Sachverständige zum Personalbeweis
  • (b) Sachverständige zum Sachbeweis
  • bb. Sachbeweis
  • cc. Ermittlungs- und Aufklärungsfehler
  • (1) Ermittlungsfehler
  • (2) Richterliche Aufklärungsfehler
  • dd. Richterliche Überzeugungsbildung
  • ee. Das Gesetz als Fehlerquelle
  • (1) Das Strafbefehlsverfahren
  • (2) Das Wiederaufnahmeverfahren
  • c. Exkurs: Deliktsspezifische Fehlerquellen
  • 3. Zusammenfassung und Würdigung
  • V. Zusammenfassung der Untersuchung „klassischer“ Fehlerquellen nach Alsberg, Hirschberg, Kiwit und Peters
  • B. ZUR AKTUALITÄT DER BEFUNDE VON ALSBERG, HIRSCHBERG, KIWIT UND PETERS
  • I. Dunkel, Fehlentscheidungen in der Justiz (2018)
  • 1. Übersicht und Methodik
  • 2. Ergebnisse der Studie
  • 3. Zusammenfassung
  • II. Böhme, Das strafgerichtliche Fehlurteil (2018)
  • 1. Übersicht und Methodik
  • 2. Ergebnisse der Experteninterviews
  • 3. Zusammenfassung
  • III. Zwischenergebnis
  • Kapitel 3: Vertiefung einzelner Fehlerquellen als Anknüpfungspunkte für „moderne“ Fehlerquellen
  • A. DIE PERSONALBEWEISSCHWÄCHE
  • I. Falsche Geständnisse
  • 1. Begrifflichkeit und Bedeutung im Strafprozess
  • 2. Erscheinungsformen von (falschen) Geständnissen
  • 3. Geständniswirkungen
  • 4. Ursachen, Motive und begünstigende Umstände für die Abgabe falscher Geständnisse
  • a. Die Motive und Ursachen falscher Geständnisse
  • aa. Bewusst falsche Geständnisse
  • bb. Unbewusst/Irrig falsche Geständnisse
  • cc. Unkritische/Fehlende Prüfung des Geständnisses
  • b. Kategorisierung der Ursachen und Motive falscher Geständnisse
  • c. Begünstigende Umstände für die Abgabe (druckinduzierter) Falschgeständnisse
  • 5. Der Geständniswiderruf als Fehlerquelle
  • 6. Zusammenfassung
  • II. Falsche Zeugenaussagen
  • 1. Arten von falschen Zeugenaussagen
  • 2. Motive und Ursachen für falsche Zeugenaussagen
  • a. Motive für bewusst falsche Zeugenaussagen
  • b. Ursachen für unbewusste bzw. irrige Falschaussagen
  • 3. Begünstigende äußere Faktoren für die Abgabe einer falschen Zeugenaussage
  • 4. Ungenügende Prüfung der Zeugenaussage
  • 5. Zusammenfassung
  • B. FEHLER BEI DER GERICHTLICHEN AUFKLÄRUNG
  • I. Kognitive Verzerrungsfaktoren und Urteilsbeeinflussungsfaktoren
  • II. Die Ökonomisierung des Strafverfahrens
  • III. Die Personalknappheit der Justiz
  • IV. Zusammenfassung
  • Kapitel 4: Die „modernen“ Fehlerquellen
  • A. DIE STRAFPROZESSUALE ABSPRACHE
  • I. Allgemeiner Überblick und Entwicklung der Absprache in Deutschland
  • II. Die heutige Ausgestaltung des zentralen § 257c StPO
  • III. Kritik an der Verständigung und deren Verhältnis zu den Prozessgrundsätzen
  • IV. Verfassungsmäßigkeit der Norm nach dem Bundesverfassungsgericht
  • V. Die strafprozessuale Absprache als „moderne Fehlerquelle“ im Strafverfahren
  • 1. Fehler auf Ebene der Sachverhaltsfeststellung
  • a. Falschgeständnisse
  • aa. Falschgeständnisse von unschuldigen Angeklagten
  • bb. Falschgeständnisse von schuldigen Angeklagten
  • b. Die ungenügende gerichtliche Prüfung des Geständnisses
  • c. Verwertung fehlerhafter Geständnisse in Folgeverfahren
  • 2. Subsumtionsfehler
  • a. Der Schuldspruch als Gegenstand der Verständigung
  • b. Für den Schuldnachweis ungenügende Feststellungen
  • 3. Strafzumessungsfehler
  • 4. Faktische Verringerung nachträglicher Korrekturmöglichkeiten durch Umgehung des Verbots eines Rechtsmittelverzichts
  • 5. Exkurs: Konsensuale Verfahrenseinstellungen (ohne Urteil) nach § 153a StPO
  • VI. Zusammenfassung
  • B. DIE „GROßE“ KRONZEUGENREGELUNG, § 46b StGB
  • I. Allgemeiner Überblick und Entwicklung der großen Kronzeugenregelung
  • II. Die Ausgestaltung des § 46b StGB im Einzelnen
  • III. Exkurs: Grundsätzliche Kritik an § 46b StGB
  • IV. Die „große“ Kronzeugenregelung als „moderne Fehlerquelle“ im Strafprozess
  • 1. Fehler auf Ebene der Sachverhaltsfeststellung
  • a. Die Falschbezichtigung Dritter
  • b. Die defizitäre gerichtliche Beweiswürdigung und Sachverhaltsaufklärung
  • aa. Allgemeine Probleme bei der Beweiswürdigung
  • bb. Die der Kronzeugenregelung im Besonderen anhaftenden Probleme der Beweiswürdigung
  • 2. Fehler auf Ebene der Rechtsanwendung: Strafzumessungsfehler
  • V. Zusammenfassung
  • C. DAS STRAFBEFEHLSVERFAHREN, §§ 407 ff.
  • I. Allgemeiner Überblick und Entwicklung des Strafbefehlsverfahrens
  • II. Die Ausgestaltung des Strafbefehlsverfahrens im Einzelnen
  • III. Exkurs: Grundsätzliche Kritik am Strafbefehlsverfahren
  • IV. Das Strafbefehlsverfahren als eine „moderne Fehlerquelle“ im Strafprozess
  • 1. Allgemeine Fehlerquellen
  • a. Das Unterlassen eines Einspruchs durch den Betroffenen
  • aa. Das fehlende Verständnis für die Rechtsnatur des Strafbefehls und des Einspruchs
  • bb. Das Unterlassen des Einspruchs zum Selbstschutz und als kleineres Übel
  • cc. Das Strafbefehlsverfahren als Gegenstand einer Absprache und das Risiko von Falschgeständnissen
  • dd. Der verfristete und damit unzulässige Einspruch
  • b. (Gerichtliche) Aufklärungsfehler
  • aa. Unterlassene/Fehlerhafte Abklärung der Schuldfähigkeit
  • bb. Unterlassen der sorgfältigen Sachverhaltsaufklärung
  • cc. Identitätsirrtümer
  • dd. Doppelverurteilungen
  • c. Diskussion um den Grad der richterlichen Überzeugungsbildung bei Erlass des Strafbefehls
  • 2. Besondere Fehlerquelle: Strafbefehlsverfahren bei Straßenverkehrsdelikten
  • 3. Besondere Fehlerquelle: Strafbefehle im Nebenstrafrecht am Beispiel des Migrationsstrafrechts?
  • a. Vorbemerkungen
  • b. Ergebnisse der Interviews
  • aa. Häufigkeit von falschen Strafbefehlen im Migrationsstrafrecht (Fragen 2–4a)
  • bb. Zentrale Fehlerquellen des Strafbefehls im Migrationsstrafrecht (Fragen 5–7)
  • cc. Weitere Fehlerquellen des Strafbefehlsverfahrens im Migrationsstrafrecht (Fragen 8–20a)
  • (1) Die Sachverhaltsaufklärung (Fragen 8–14)
  • (2) Das Einspruchsverhalten (Fragen 15–18)
  • (3) Rechtsanwendungsfehler (Fragen 19–20a)
  • dd. Schlusseinschätzung und Vermeidungsmöglichkeiten (Fragen 22–24)
  • c. Zusammenfassung und Würdigung der Interviews
  • V. Zusammenfassung
  • D. DIE MEDIENÖFFENTLICHKEIT BZW. DIE „MEDIALISIERUNG“ DES STRAFVERFAHRENS
  • I. Allgemeiner Überblick und der Wandel des Verständnisses vom Verhältnis der Medien zum Strafverfahren
  • II. Erscheinungsformen der Medialisierung und allgemeine Auswirkungen
  • III. Die Medienöffentlichkeit bzw. die Medialisierung als „moderne Fehlerquelle“ des Strafverfahrens?
  • 1. Medialisierung als „moderne Fehlerquelle“ für das Ermittlungsverfahren
  • 2. Medialisierung als „moderne Fehlerquelle“ für die Hauptverhandlung?
  • a. Allgemeine Risiken für die Wahrheitsfindung
  • aa. Risiken für die Beweiserhebung
  • bb. Risiken für die Beweiswürdigung
  • b. Risiken für die Beeinträchtigung der Entscheidung im Einzelnen nach Verfahrensbeteiligten
  • aa. Direkte Beeinflussung der Entscheidung durch Einfluss auf den Richter
  • bb. Indirekte Beeinflussung der Entscheidung durch den Einfluss auf andere Verfahrensbeteiligte
  • (1) Beeinflussung der Staatsanwaltschaft
  • (2) Beeinflussung vom Angeklagten und vom Verteidiger
  • (3) Beeinflussung von Zeugen
  • (4) Beeinflussung von Sachverständigen
  • (5) Zwischenergebnis
  • IV. Zusammenfassung
  • Kapitel 5: Leitfadengestützte Experteninterviews mit Strafrichtern des Amtsgerichts Tiergarten und des Landgerichts Berlin
  • A. METHODISCHE UND THEORETISCHE VORBEMERKUNGEN
  • I. Untersuchungsziele
  • II. Methodisches Vorgehen
  • 1. Forschungsmethode
  • 2. Art der Datensammlung
  • 3. Vor- und Nachteile leitfadengestützter Experteninterviews
  • 4. Forschungsfeld
  • 5. Interviewvorbereitung und Akquise der Interviewpartner
  • 6. Durchführung, Kommunikationsform und Sonstiges
  • 7. Vorgehen bei der Transkription und Auswertung
  • III. Kurzvorstellung der Interviewpartner
  • IV. Interviewleitfaden
  • B. ERGEBNISSE DER INTERVIEWS
  • I. Die zentralen und klassischen Fehlerquellen des Strafprozesses (Fragen 1 bis 7)
  • 1. Zentrale Ursachen für strafgerichtliche Fehlentscheidungen (Fragen 1 bis 3)
  • 2. Vertiefung der Klassischen Fehlerquellen der Personalbeweisschwäche und der gerichtlichen Aufklärungsfehler (Fragen 4 bis 7)
  • a. Die Personalbeweisschwäche
  • b. Gerichtliche Aufklärungsfehler
  • II. Moderne Fehlerquellen des Strafprozesses (Fragen 8 bis 22)
  • 1. Manifestation der Personalbeweisschwäche und gerichtlicher Aufklärungsfehler in den vermuteten modernen Fehlerquellen (Fragen 8 bis 8d)
  • 2. Spezifische Fehleranfälligkeiten der vermuteten modernen Fehlerquellen
  • a. Weitere spezifische Fehleranfälligkeiten der Absprache (Fragen 9 bis 11)
  • b. Weitere spezifische Fehleranfälligkeiten der (großen) Kronzeugenregelung (Fragen 12 und 13)
  • c. Weitere spezifische Fehleranfälligkeiten des Strafbefehlsverfahrens (Fragen 14 und 15)
  • d. Weitere spezifische Fehleranfälligkeiten durch die Medienöffentlichkeit (Fragen 16 bis 21)
  • 3. Weitere moderne Fehlerquellen (Frage 22)
  • III. Möglichkeiten der Vermeidung strafgerichtlicher Fehlentscheidungen (Fragen 23 bis 30)
  • 1. Vermeidung der klassischen Fehlerquellen der Personalbeweisschwäche und der gerichtlichen Aufklärungsfehler (Fragen 23 und 24)
  • 2. Vermeidung der modernen Fehlerquellen
  • C. ZUSAMMENFASSUNG UND WÜRDIGUNG
  • Kapitel 6: Möglichkeiten der Vermeidung strafgerichtlicher Fehlentscheidungen und Reformvorschläge
  • A. VERMEIDUNG DER KLASSISCHEN FEHLERQUELLEN DER PERSONALBEWEISSCHWÄCHE UND DER GERICHTLICHEN AUFKLÄRUNGSFEHLER
  • I. Anknüpfungspunkt Personalbeweisschwäche
  • 1. Schärfung des Fehlerbewusstseins für den Personalbeweis
  • 2. Aussagepsychologische Ausbildung der Verfahrensbeteiligten
  • 3. Verstärktes Zurückgreifen auf aussagepsychologische Sachverständige
  • 4. Optimierung polizeilicher Vernehmungen
  • 5. Elektronische Dokumentation der Aussagen von Beschuldigten und Zeugen
  • a. Elektronische Dokumentation im Ermittlungsverfahren
  • b. Elektronische Dokumentation des Hauptverfahrens
  • 6. Einsatz von „Lügendetektoren“?
  • II. Anknüpfungspunkt Gerichtliche Aufklärungsfehler
  • 1. Entscheidungspsychologische Ausbildung von Richtern
  • 2. Dringende Aufstockung der Personaldecke in der Justiz
  • B. VERMEIDUNG „MODERNER FEHLERQUELLEN“
  • I. Anknüpfungspunkt strafprozessuale Absprache
  • 1. Abschaffung der Verständigung im Strafverfahren?
  • 2. Schaffung von Normklarheit
  • 3. Änderung der Gerichtszuständigkeit beim Scheitern einer Absprache
  • 4. Einführung eines Umgehungsverbots zum Verbot des Rechtsmittelverzichts
  • 5. Stärkung der Kontrolle und Selbstkontrolle der Staatsanwaltschaft
  • II. Anknüpfungspunkt (große) Kronzeugenregelung
  • 1. Rückkehr zu bereichsspezifischen „kleinen“ Kronzeugenregelungen?
  • 2. Abschaffung der Präklusionsregelung in § 46b Abs. 3 StGB
  • 3. Absicherung der Kronzeugenaussage durch weitere Beweismittel
  • 4. Förderung der Kooperation und Kommunikation in der Justiz
  • III. Anknüpfungspunkt Strafbefehlsverfahren
  • 1. Abschaffung der Möglichkeit des Strafbefehlsverfahrens bei Freiheitsstrafen
  • 2. Einführung einer verpflichtenden (schriftlichen) Anhörung
  • 3. Begründung des Strafbefehls
  • 4. Optimierung der polizeilichen Dokumentation bei Anhaltspunkten für eine Schuldunfähigkeit oder für sprachliche Defizite
  • 5. Verbesserung der Rechtsschutzmöglichkeiten gegen fehlerhafte Strafbefehle
  • IV. Anknüpfungspunkt Medienöffentlichkeit
  • 1. Völlige Verfahrensöffnung vs. strenge Abschottung? – weder noch!
  • 2. Übernahme eines „contempt of court“ in das deutsche Strafrecht?
  • 3. Regulierung ermittlungsbehördlicher Öffentlichkeitsarbeit
  • 4. Eindämmung der „Strafprozessführung über Medien“ durch gemeinsame Pressekonferenzen
  • 5. Beibehaltung eines grundsätzlichen Aufnahmeverbots in der Hauptverhandlung
  • C. ZUSAMMENFASSUNG DER EMPFEHLUNGEN
  • Kapitel 7: Fazit und Ausblick
  • Anhang A1: Interviewleitfaden zur Durchführung von Experteninterviews zum Thema „Fehleranfälligkeit des Strafbefehlsverfahrens im Migrationsstrafrecht“
  • Anhang A2: Interviewleitfaden zur Durchführung von Experteninterviews zum Thema „Klassische und moderne Fehlerquellen in der Strafjustiz sowie Vermeidungsmöglichkeiten“
  • Literaturverzeichnis
  • Quellenverzeichnis

Kapitel 1: Einleitung, Begriffsbestimmung und theoretische Vorüberlegungen

A. EINLEITUNG

I. Problemdarstellung

In seinem Buch „Die Wahrheit vor Gericht“ formuliert der emeritierte Rechtsprofessor und deutsche Strafverteidiger Volk plakativ: „Die Wahrheit muss ans Licht kommen. Sie liegt zuerst einmal im Dunkeln, ist verborgen: Die Wahrheit, so stellt man sie sich bei uns [Anmerkung: in Deutschland und beispielsweise im Gegensatz zum US-amerikanischen Zwei-Parteien-System] vor, ist wie ein vergrabenes Goldstück, das man suchen muss. Man kann sie finden, weil es sie ‚gibt‘. Es gibt sie auch dann, wenn man sie nicht findet. Sie existiert nun einmal, wie das vergrabene Goldstück. Und die Schürfrechte liegen allein beim Gericht. Es hat das Recht und die Pflicht, den Schatz der Wahrheit zu pflegen.“1 Doch nur zu oft fördert das Gericht etwas zu Tage, was es fälschlicherweise für Gold hält: Als bei der Frau vom Schauspieler Günther Kaufmann Knochenkrebs diagnostiziert wird, kommt die Familie infolge der medizinischen Behandlungen in finanzielle Schwierigkeiten. Als die Frau nach einem Betrugsversuch Beweismittel bei ihrem Steuerberater vernichten möchte, töten die von ihr beauftragten Männer den Steuerberater. Um seine inzwischen schwer kranke Frau zu schützen und vor dem Gefängnis zu bewahren, gesteht er die Tat im Ermittlungsverfahren. Er wird zu 15 Jahren Haft wegen schwerer räuberischer Erpressung mit Todesfolge verurteilt.2 Mag sich dieser Sachverhalt doch wie ein Kriminal-Thriller anhören, ist er dennoch Realität in der deutschen Strafjustiz. Er gehört zu den bekanntesten Fällen und bildet nur die „Spitze des Eisbergs“ strafgerichtlicher Fehlentscheidungen. Weitere und medial kontrovers diskutierte Fälle von Fehlentscheidungen der letzten Jahre sind einerseits der Fall H. Arnold, ein Biologielehrer, der aufgrund eines erfundenen Vergewaltigungsvorwurfs zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren Haft verurteilt und bei dem zugleich die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gerichtlich angeordnet wurde,3 andererseits der Fall G. Mollath, welcher zu Unrecht 5 Jahre in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht wurde.4

Es besteht der Eindruck, dass das Thema der strafgerichtlichen Fehlentscheidungen immer nur dann in den Fokus der Öffentlichkeit gelangt, wenn es wieder einmal zu einem medienwirksamen falschen Judikat von öffentlicher Bedeutung gekommen ist. Was für die öffentlich-mediale Thematisierung gilt, gilt für die rechtswissenschaftliche Auseinandersetzung gleichermaßen. Seit der umfangreichen und systematischen Untersuchung von Peters5 ist inzwischen fast ein halbes Jahrhundert vergangen. Seitdem stagniert die Fehlentscheidungsforschung in Deutschland. Auch im internationalen Vergleich schneidet Deutschland schlecht ab.6 Während sich in anderen Ländern Initiativen zur Aufdeckung, Erfassung und Korrektur von Fehlentscheidungen – wie das US-amerikanische „Innocence Project“ – gebildet haben, es inzwischen gar ein Innocence Movement gibt, zu dem auch europäische Staaten gehören, ist die Fehlerkultur hierzulande unterentwickelt.7 In den letzten Jahren ist durch einige Publikationen allerdings wieder etwas Bewegung in die Sache gekommen. So befasste sich u.a. Böhme8 in seiner Dissertation mit den Ursachen für strafgerichtliche Fehlentscheidungen, Dunkel9 führte eine Analyse von Wiederaufnahmeakten durch und Kemme/Dunkel10 untersuchten die bisher „wenig beachtete“ Verbindung zwischen Strafbefehlen und Fehlurteilen.11 Ferner soll mit dem „Projekt: Fehlurteil und Wiederaufnahme“ nun auch in Deutschland eine zentrale Anlaufstelle zur systematischen Aufdeckung und Korrektur von Fehlurteilen etabliert werden.12

Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Fehlentscheidung bzw. des Fehlurteils, der Häufigkeit, alten und neuen Ursachen sowie der Vermeidbarkeit ist unerlässlich, da es gerade die Kernaufgabe des Strafprozesses ist, den wahren und vollständigen Sachverhalt zu ermitteln, welcher unabdingbare Voraussetzung zur Gewährleistung des materiellen Schuldprinzips ist.13 Die Sachverhaltsermittlung ist Fundament eines gerechten Urteils und resultiert aus dem aus § 244 Abs. 2 StPO abzuleitenden verfassungsrechtlichen Gebot bestmöglicher Sachverhaltsaufklärung.14 Dies wird auch als Prinzip der materiellen Wahrheit bezeichnet.15 Gerade im Strafrecht kann das gefällte Urteil den größten grundrechtsrelevanten Eingriff für den Bürger darstellen.16 Es geht unter Umständen um die Frage, ob der Angeklagte17 zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wird und damit in seiner persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2, S. 2 GG) und zahlreichen weiteren Grundrechten ganz erheblich beschränkt wird. Aber auch im Vorfeld der Hauptverhandlung kann der Beschuldigte schon unter erheblichem Druck stehen. Mit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens (oder später der Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft) kann es zu kardinaler sozialer Ächtung, gesellschaftlichem Ausschluss, öffentlicher Rufschädigung, finanziellen und beruflichen Einbußen sowie der sozialen Abkanzelung durch Freunde und Familie kommen. Daher sind an die strafrechtliche Wahrheitsfindung sowie die Rechtsanwendung ganz besonders hohe Sorgfaltsanforderungen zu stellen. Die Fehlentscheidungsforschung muss folglich wieder vermehrt in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Forschung gelangen, sei es bezüglich „klassischer“ Fehlerquellen, wo die Forschung in den letzten Jahrzehnten stagniert oder bezüglich vermuteter, „moderner“ Fehlerquellen, welche scheinbar noch nicht im vollen Bewusstsein der Fehlentscheidungsforschung angelangt sind.

Wie schon Peters formulierte, bringt „die Tatsache des Justizirrtums […] dem Juristen den hohen Grad seiner Verantwortung zum Bewußtsein. Die Befassung mit Fehlurteilen zeigt ihm, daß die Schwierigkeiten seines Berufs nicht allein in den theoretischen Problemen, sondern auch in der praktischen Verwirklichung liegen. Eine Fülle rechtlicher Streitfragen würde in den Hintergrund treten, wenn man sich wirklich dessen bewußt würde, wo die Gründe falscher Entscheidungen liegen.“18

Abgesehen von dem tatsächlichen oder statistischen Vorkommen bietet somit allein die abstrakte Gefahr von Fehlentscheidungen bereits einen Anlass, sich mit der Thematik in der angemessenen Tiefe auseinanderzusetzen, um durch eine Fehlerquellenvermeidung das Gefühl der Rechtssicherheit und das Vertrauen der Bevölkerung in die dritte Staatsgewalt19 – die Judikative – zu stärken.

II. Methodik

Die Dissertation gliedert sich in sieben Kapitel:

Nach Darstellung der theoretischen Grundlagen, der Erkenntnisse zur Häufigkeit sowie des status quo der bisherigen Vorkehrungen zur präventiven Vermeidung und nachträglichen Korrektur von Fehlentscheidungen (Kapitel 1), werden im Kapitel 2 zunächst die „klassischen“ Ursachen für strafgerichtliche Fehlentscheidungen untersucht. Diesbezüglich dienen die zentralen Arbeiten der Erforschung hier so bezeichneter, „klassischer“ Fehlerquellen von Alsberg, Hirschberg, Kiwit und Peters20 als Ausgangspunkt. Da diese Arbeiten bereits Jahrzehnte alt sind, wird auch der Frage nachgegangen, ob die ermittelten Ergebnisse heute noch aktuell sind.

Anschließend findet eine vertiefte Auseinandersetzung mit einzelnen „klassischen“ Fehlerquellen statt (Kapitel 3). Die Auseinandersetzung mit den klassischen Fehlerquellen, insbesondere mit der Personalbeweisschwäche (falsche Geständnisse, Falschaussagen von Zeugen) und gerichtlichen Aufklärungsfehlern, dient sodann als Anknüpfungspunkt für eine Untersuchung vermuteter und hier so bezeichneter, „moderner“ Fehlerquellen (Kapitel 4).21 Gesetzgeberische Reformen hin zur Einführung der strafprozessualen Verständigung (§ 257c StPO)22 und der strafrechtlichen Kronzeugenregelung (§ 46b StGB)23 sowie dem Strafbefehlsverfahren könnten ein erhöhtes – auch klassischen Fehlerquellen wie der Personalbeweisschwäche innewohnendes – Gefahrenpotential für falsche Judikate aufweisen. Es stellt sich die Frage, ob der Gesetzgeber mit Einführung dieser Normen seine staatliche Aufgabe der gerichtlichen Wahrheitsfindung sehenden Auges auf dem Altar der Prozessökonomie und Gerichtsentlastung geopfert hat. Da es sich bei diesen Normen im Speziellen noch um relativ junge Regelungen handelt, sind sie im Bezug auf eine fehlentscheidungsspezifische Auseinandersetzung noch weitestgehend unerforscht. Die Arbeit soll einen wissenschaftlichen Beitrag für eine Hinwendung der Fehlentscheidungsforschung zu „modernen“ Fehlerquellen, ihrer Entdeckung und Korrektur24 leisten.

Um die gewonnenen Erkenntnisse zu verifizieren, einen Einblick in die Erfahrungen im Umgang mit den vermuteten Fehlerquellen und individuelle Gefahreneinschätzungen sowie einen praxisnahen Eindruck von tauglichen Vermeidungsmöglichkeiten zu erhalten, fand im Anschluss an die literaturgestützte Vorauswertung eine eigene empirische Erhebung statt (Kapitel 5). Hierfür wurden zehn leitfadengestützte Experteninterviews mit Richtern des Amtsgerichts Tiergarten und des Landgerichts Berlin durchgeführt und ausgewertet.

Im sodann folgenden Kapitel 6 sollen schließlich Reformvorschläge und Möglichkeiten diskutiert werden, mit denen klassische und moderne Fehlerquellen vermieden werden könnten, bevor in Kapitel 7 ein abschließender Ausblick skizziert wird.

B. BEGRIFFSBESTIMMUNG: WAS IST EINE FEHLENTSCHEIDUNG?

Um sich mit den Ursachen strafgerichtlicher Fehlentscheidungen auseinanderzusetzen und Möglichkeiten zu erarbeiten, solche in der Zukunft zu vermeiden oder jedenfalls das Gefahrenpotential zu minimieren, ist zunächst eine Auseinandersetzung mit der Begrifflichkeit der Fehlentscheidung geboten.

Die bisherige Forschung befasste sich vor allem mit der Begrifflichkeit des Fehlurteils.

Laut Wikipedia ist ein Fehlurteil, welches dort als Synonym für einen Justizirrtum verwendet wird,25 „in erster Linie eine strafrechtliche Verurteilung Unschuldiger.“26 Diese unter juristischen Laien verwendete Begrifflichkeit des laienhaft-umgangssprachlichen Verständnisses wird von Barton auch als naiver-intuitiver Begriff bezeichnet.27 Aber auch Juristen selbst folgen zum Teil dieser Begrifflichkeit. So vermutet der Strafverteidiger Schwenn, dass auch der Strafjurist von einem Fehlurteil sprechen würde, „wenn der vermeintliche Täter die festgestellte Tat nicht begangen hat“.28 Zum Teil wird auch vertreten, dass es das Fehlurteil gar nicht geben würde.29

Auch wenn der Eindruck besteht, dass die Bevölkerung ein Fehlurteil automatisch mit dem Strafrecht in Verbindung bringen könnte, sind Fehlurteile kein Phänomen, welches nur auf die Materie des Strafrechts beschränkt ist. Sie können auch im Zivilrecht und im Öffentlichen Recht auftreten. Das Augenmerk der öffentlichen und vermehrt wissenschaftlichen Auseinandersetzung liegt vermutlich deshalb regelmäßig bei strafgerichtlichen Fehlurteilen, da diese für den Betroffenen mit schwerwiegenden Folgen und intensiven Grundrechtseingriffen30 verbunden sind. Zwar können auch zivilrechtliche und öffentlich-rechtliche Fehlurteile kardinale Konsequenzen für die Betroffenen entfalten.31 Gerade dem Strafrecht ist jedoch immanent, dass sich eine empfindliche Beeinträchtigungen nicht erst aus dem Schuldspruch im Urteil ergeben kann. Vielmehr können auch schon die Einleitung des Ermittlungsverfahrens (§§ 152 Abs. 2 i.V.m. 160 Abs. 1 StPO), die Erhebung der Anklage durch die Staatsanwaltschaft (§ 170 Abs. 1 StPO) oder die Eröffnung der Hauptverhandlung zum Abschluss des Zwischenverfahrens (§ 203 StPO) erhebliche Belastungen für den Betroffenen darstellen. Bereits in diesen frühen Verfahrensabschnitten kann es zu einem hohen Grad an sozialer Ächtung, gesellschaftlichem Ausschluss, öffentlicher Rufschädigung, finanziellen und beruflichen Einbußen sowie der sozialen Abkanzelung durch Freunde und Familie kommen.32

Um der späteren Untersuchung einen einheitlichen Fehlentscheidungsbegriff zugrunde zu legen, erfolgt im Folgenden eine Auseinandersetzung mit vorhandenen Lösungsansätzen.

I. Ausgangspunkt

Nach derzeitigem Forschungsstand existiert keine eindeutige Definition des Fehlentscheidungsbegriffs, ebenso wenig für das Fehlurteil. Im Duden, dem zentralen Verzeichnis der deutschen Rechtschreibung und Sprache, findet sich unter dem Stichwort Fehlurteil folgender Eintrag: „Bedeutungen: a. unangemessenes Urteil, b. falsches Urteil.“33 Als Synonyme werden „Irrtum“, „Täuschung“, „Trugschluss“ angeführt.34 Eine solche Aufzählung von Ausprägungen und Herausbildungen vermag jedoch wahrlich keine Definition darzustellen. Eine ähnliche Erkenntnis bringt ein Blick in die einschlägigen juristischen Fachwörterbücher. Dort beschränkt sich die „Begriffsbestimmung“ des Fehlurteils entweder ebenfalls auf die Aufzählung von Erscheinungsformen und Merkmalen, trägt nicht zur Klärung der Frage bei, da sie weitere Probleme aufwirft,35 oder fehlt in der Regel sogar gänzlich.36 Wie auch Böhme vermutet,37 kann daraus geschlossen werden, dass das Fehlurteil kein juristischer Fachterminus ist.

Um einen Fehlentscheidungsbegriff zu entwickeln, muss vielmehr eine Untersuchung der einzelnen Merkmale und Dimensionen erfolgen.38 Im Nachfolgenden wird daher zunächst nach den Teilbegriffen der „-Entscheidung“ und der Falschheit im Sinne von „Fehl-“ unterschieden.39 Im Zuge dessen sollen die einzelnen Dimensionen bzw. umstrittene Definitionsmerkmale untersucht werden.40 Dazu gehören u.a. folgende Einzelfragen:

  • Beschränkt sich die Fehlentscheidung auf Urteile?
  • Besteht das Erfordernis der Rechtskraft?
  • Sind neben Fehlern auf Sachverhaltsebene auch solche auf Rechtsanwendungsebene erfasst?
  • Sind als Fehlentscheidungen auch solche zu klassifizieren, welche zugunsten des Betroffenen ergehen?
  • Können Freisprüche Fehlurteile sein?
  • Muss der Fehler kausal für die Entscheidung sein?
  • Bedarf die Fehlentscheidung der Vermeidbarkeit?
  • Sind Fehlentscheidungen, Justizirrtümer und Skandalurteile das Gleiche?

II. Auseinandersetzung mit dem Teilbegriff „-Entscheidung“

1. Ausgangspunkt

Beschäftigt man sich mit dem Thema strafgerichtlicher Fehlentscheidungen, so fällt früh auf, dass sich die große Mehrheit der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen begrifflich mit dem Phänomen des Fehl „urteils“ befassen.41

Fehler tatsächlicher oder rechtlicher Ausprägung sind jedoch bei allen Entscheidungen von Rechtspflegeorganen (Gericht, Staatsanwaltschaft, Amtsanwaltschaft) möglich, d.h. bei Zwischenentscheidungen (zum Beispiel bei der Einleitung des Ermittlungsverfahrens nach den §§ 152 Abs. 2 i.V.m. 160 Abs. 1 StPO, der Erhebung der Anklage nach § 170 Abs. 1 StPO oder der Eröffnung des Hauptverfahrens gem. § 203 StPO) oder Haftentscheidungen. Neben Urteilen gibt es für das Gericht als weitere Entscheidungsformen auch den Beschluss und die Verfügung, welche ein ebensolches Fehlerpotential aufweisen können.42 Jene Entscheidungsformen sind für den Betroffenen nicht zwangsläufig minder belastend und minder eingriffsintensiv. Man denke dabei nur an Haftentscheidungen.43 Ergeht ein Untersuchungshaftbefehl gem. § 114 StPO in der Beschlussform, obwohl die Anordnungsvoraussetzungen der Untersuchungshaft nicht vorliegen, ist dieser Beschluss fehlerhaft. Man könnte in diesem Zusammenhang die Terminologie des „Fehlbeschlusses“ gebrauchen.44 Gleiches gilt für den Beschluss über die Fortwirkung einer Maßregel der Besserung und Sicherung, wenn die Voraussetzungen der Fortdauer nicht oder nicht mehr vorliegen.45 Nicht anders wirkt sich auch ein Beschluss zugunsten des Angeschuldigten46 aus, der die Eröffnung des Hauptverfahrens am Ende des Zwischenverfahrens ablehnt,47 ein sogenannter Nichteröffnungsbeschluss nach § 204 StPO.

Auch der Gesetzgeber hat die Möglichkeit fehlerhafter Beschlüsse erkannt und daher dem Betroffenen mit der Beschwerde (§§ 304 ff. StPO) eine Korrekturmöglichkeit an die Hand gegeben. Laut § 304 Abs. 1 StPO ist die Beschwerde gegen alle von den Gerichten im ersten Rechtszug oder im Berufungsverfahren erlassenen Beschlüsse und gegen die Verfügungen des Vorsitzenden, des Richters im Vorverfahren und eines beauftragten und ersuchten Richters zulässig, soweit das Gesetz sie nicht ausdrücklich einer Anfechtung entzieht (wie in Form der Ausschlussgründe des § 304 Abs. 4 StPO). Eine Besonderheit gilt für verfahrensabschließende Beschlüsse, die an die Stelle eines Urteils treten, sogenannte urteilsersetzende Beschlüsse.48 Für solche Beschlüsse kommt, über den Wortlaut der §§ 359 ff. StPO hinaus, eine Analogie zu den Wiederaufnahmeregelungen in Betracht.49 Fehlerhafte Beschlüsse sind daher in die Begriffsbestimmung der Fehlentscheidung einzubeziehen.50

Nichts Anderes kann für die richterliche Verfügung gelten,51 deren Korrekturbedürftigkeit vom Gesetzgeber ebenfalls in § 304 Abs. 1 StPO ihren Niederschlag findet.

Auch das Strafbefehlsverfahren wird in der vorliegenden Arbeit vom Fehlentscheidungsbegriff mit erfasst. Hier stellt die Staatsanwaltschaft im Verfahren vor dem Amtsgericht einen schriftlichen Strafbefehlsantrag, sofern der Akteninhalt einen hinreichenden Tatverdacht vermittelt und es dem Richter möglich ist, nur aufgrund des Akteninhalts und ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung einen Schuldspruch zu fällen und die beantragte Rechtsfolge auszusprechen, § 407 StPO. Geht der Richter vom Zutreffen des beantragten Schuldspruchs und der beantragten Rechtsfolgen aus, erlässt er den Strafbefehl (§ 408 Abs. 3 StPO) und stellt ihn dem Angeklagten zu. Wenn der Strafbefehl aufgrund der Tatsache rechtskräftig wird, dass der Angeklagte keinen Einspruch eingelegt, steht er in seiner Wirkung einem Urteil gleich (§ 410 Abs. 3 StPO). Wird hingegen Einspruch eingelegt, so gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wird er aufgrund von Unzulässigkeit durch Beschluss verworfen (§ 411 Abs. 1 S. 1 StPO) oder das Strafbefehlsverfahren geht in das Verfahren mit Hauptverhandlung über. Der Strafbefehl übernimmt insoweit die Funktion des Eröffnungsbeschlusses.52 Gegen das in der Hauptverhandlung ergangene Urteil stehen dem Angeklagten die Berufung (§ 312 StPO) zum Landgericht (§ 74 Abs. 3 GVG) oder die Sprungrevision (§ 335 StPO) zum Oberlandesgericht (§§ 335 Abs. 2, 312 StPO, § 121 Abs. 1, Nr. 1 GVG) als Rechtsmittel zur Verfügung. Findet zunächst eine Berufung gegen das vom Strafrichter oder von dem Schöffengericht ergangene Urteil statt, kann der Angeklagte gegen das Urteil vom Landgericht Revision zum Oberlandesgericht einlegen (§ 333 StPO, § 121 Abs. 1, Nr. 1, lit. b GVG). Ist bereits die Rechtskraft eingetreten, so besteht die Möglichkeiten der Korrektur im Rahmen der rechtskraftdurchbrechenden Wiederaufnahme (§ 373a StPO). Der Strafbefehl nimmt dogmatisch eine Zwitterstellung ein, da es sich bei ihm formell um einen Beschluss handelt, aber materiell um ein auf Strafe erkennendes Urteil.53 Es handelt sich nicht um ein Urteil im eigentlichen Sinne, da es eine mündliche Verhandlung grundsätzlich nicht gibt (§ 407 Abs. 1, S. 1 StPO). Wegen seines urteilsähnlichen Wesens (vgl. § 410 Abs. 3 StPO) geht er aber in seiner Wirkung über diejenige eines Beschlusses hinaus. Der Strafbefehl kann daher als Entscheidungsform sui generis aufgefasst werden.54

Auch beim Strafbefehl ist der Gesetzgeber aufgrund der Palette an Korrekturmöglichkeiten (in Form des formlosen Rechtsbehelfs des § 410 Abs. 1 StPO und der Möglichkeit der Berufung sowie Sprungrevision (s.o.) im Instanzenzug) erkennbar von möglichen Fehlern ausgegangen. Da der Strafbefehl ohne mündliche Verhandlung, mithin ohne Anhörung des Beschuldigten, ergeht und somit die Möglichkeit einer unzureichenden Tatsachenfeststellung besteht, scheint das Strafbefehlsverfahren ein besonders hohes Fehlerpotential zu bergen55 und ist daher als Bestandteil der Fehlentscheidungsbegrifflichkeit anzusehen.56

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Fehlentscheidungen nicht nur in Form von Urteilen im „technischen Sinne“57 auftreten können. Diese bilden lediglich einen Ausschnitt bzw. eine Teilmenge aller strafrechtlichen Fehlentscheidungen. Fehlentscheidungen umfassen darüber hinaus auch Beschlüsse, Verfügungen sowie den Strafbefehl.58 Dies sollte sprachlich-begriffliche Berücksichtigung finden.59 Wird im Zuge der vorliegenden Arbeit daher von Fehlurteilen/Fehlurteilsquellen gesprochen, so bezieht sich dies auf die Entscheidungsform des Fehlurteils im technischen Sinne, während die Terminologie der Fehlentscheidung verwendet wird, wenn eine Fehlerquelle einen besonderen Bezug zu einer bestimmten Entscheidungsform aufweist, bzw. die Entscheidungsform selbst sich als fehleranfällig herausstellen sollte.

Auch im angelsächsischen Raum finden in diesem Zusammenhang alternativ die Termini „wrongful conviction“ und „miscarriage of justice“ Verwendung.60 Während der erste Begriff die „fehlerhafte Verurteilung“ in Form eines falschen Schuldspruchs meint, geht der zweite deutlich weiter. „Miscariage“ (Wörtlich: „Scheitern“ oder „Fehlgeburt“61) stellt eine Fehlentscheidung dar, die zu einer Verletzung von „Justice“ im Sinne materieller Gerechtigkeit und Gleichbehandlung des Betroffenen insgesamt führt.62 Das Scheitern der Gerechtigkeit umfasst damit unbestimmt auch sämtliche sonstigen Entscheidungsformen.63

2. Besteht das Erfordernis der Rechtskraft bei einem Fehlurteil?

Klärungsbedürftig ist weiterhin, ob (insbesondere die formelle) Rechtskraft zwingende Voraussetzung für das Vorliegen eines Fehlurteils im technischen Sinne ist.64

Die Rechtskraft dient dem deutschen Strafprozess als Ausgleich zwischen der materiell gerechten Konfliktlösung und dem Bedürfnis des (durch eine endgültige Beilegung zu erreichenden) Rechtsfriedens.65 Es muss daher gewährleistet sein, dass das verfahrensabschließende Urteil „das letzte Wort spricht“, mithin Rechtskraft erlangt.66

Mit den Begrifflichkeiten der formellen und materiellen Rechtskraft werden die verschiedenen Wirkungen des Urteils beschrieben.

Mit der formellen Rechtskraft ist die Unanfechtbarkeit einer Entscheidung im Rahmen desselben Prozesses gemeint (sogenannte Beendigungswirkung), daneben führt sie zur Vollstreckbarkeit des Urteils (§ 449 StPO).67 Sie tritt immer bei Abschluss der Verkündung des Urteils ein und zwar bei Urteilen des Revisionsgerichts (§§ 121, 135 GVG), nach nicht eingelegtem Rechtsmittel innerhalb der Rechtsmittelfrist (§§ 319 Abs. 1, 322 Abs. 1, 346 Abs. 1, 349 Abs. 1 StPO StPO), bei Rechtsmittelverzicht und bei Zurücknahme des Rechtsmittels (vgl. §§ 316, 343 StPO) oder bei unanfechtbaren Beschlüssen (§ 81c Abs. 3, S. 4 StPO: Bei der Entscheidung über eine Beschwerde nach §§ 322 Abs. 2, 346 Abs. 2 StPO oder Revisionsverwerfungen nach § 349 Abs. 2 StPO) mit Ablauf des Tages, an dem die Beschlussfassung erfolgte (§ 34a StPO).

Tritt bei einem Urteil die formelle Rechtskraft ein, so ist es auch materiell rechtskräftig. Die materielle Rechtskraft bewirkt einen Strafklageverbrauch hinsichtlich der abgeurteilten prozessualen Tat, d.h. es besteht von diesem Zeitpunkt an eine Sperrwirkung und die abgeurteilte Tat im prozessualen Sinne darf nicht noch einmal Prozessgegenstand eines Strafverfahrens oder eines Sachurteils sein („ne bis in idem“, Art. 103 Abs. 3 GG).68

Viele Autoren verstehen unter Fehlurteilen (im technischen Sinne) scheinbar nur rechtskräftige Urteile.69 So bezieht Hirschberg den Fehlurteilsbegriff „[…] ausschließlich [auf] solche Fehlurteile, die […] rechtskräftig […] sind.“70 Eine aufgefächerte Ansicht vertritt Judex: „Dabei denken wir in erster Linie an rechtskräftig gewordene Urteile und nur ausnahmsweise an Entscheidungen, die in einem späteren Verfahren korrigiert […] worden sind.“71 Dass in beiden Fällen – also bei rechtskräftigen und bei anfechtbaren Urteilen – Fehler geschehen können und in der Vergangenheit geschehen sind, dürfte außer Frage stehen.72 Eine Verengung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung auf rechtskräftige Urteile hängt mit der gängigen Argumentation zusammen, dass sie aufgrund ihrer Unanfechtbarkeit eine besondere und eingriffsintensive Härte für den Betroffenen darstellen würden.73 Dies liege daran, dass ihr Zustand, im Gegensatz zu den noch im Instanzenzug anfechtbaren Urteilen, nahezu unveränderlich sei74 (mit Ausnahme der engen Wiederaufnahme). Ein anfechtbares Urteil erhalte sein Gepräge als Fehlurteil schlussendlich nur dann, wenn ein Rechtsmittelverzicht oder ein Ablauf der Rechtsmittelfrist vorliege bzw. das Rechtsmittel erfolglos gewesen sei. Barton bezeichnet den Eintritt der Unanfechtbarkeit resümierend als „aufschiebende Bedingung“ für die Wirksamkeit eines Fehlurteils.75 Für das Kriterium der Rechtskraft wird außerdem der Wille des Gesetzgebers angeführt. So sei der Instanzenzug ja gerade die Gewährleistung für eine Kontrolle der Strafjustiz und mache deutlich, dass am Ende das Ergebnis, die korrigierte Entscheidung, zählen müsse.76

Allerdings verstehen einige Autoren unter Fehlurteilen auch noch anfechtbare Urteile.77 Dafür, die Rechtskraft nicht als eine Begrifflichkeitsvoraussetzung des Fehlurteils anzusehen, spricht zunächst einmal das Gesetz selbst. So sieht das Gesetz in Form der Rechtsmittel selbst (nachträgliche) Instrumentarien der Ergebniskorrektur vor. Wie bereits angeklungen, sind diese jedoch nur innerhalb einer Rechtsmittelfrist möglich, an deren Ende die (formelle) Rechtskraft eintritt. Ausweislich der Vorschriften der §§ 337, 338, 339 StPO ist insbesondere die Revision ein Rechtsmittel der Überprüfung und Korrektur eines Urteils auf Rechtsfehler.78 Gerade der telos der Rechtsmittel verbietet daher eine Umkehrung der Argumentation, wie sie Befürworter des Rechtskraftkriteriums anführen. Weiterhin muss die fehlende Endgültigkeit der noch anfechtbaren Entscheidung nicht zwingend Aussagen darüber enthalten, wie intensiv die Folgen für den Betroffenen sind. So können auch noch nicht rechtskräftige Entscheidungen Tatsachen schaffen, die in ihren faktisch- realen Auswirkungen denen einer rechtskräftigen Entscheidungen gleichstehen.79 Abgesehen von möglichen gesellschaftlichen, öffentlich-medialen Ächtungen und sozial-familiären Auswirkungen stelle man sich vor, dass ein wohlhabender (Klein-)Unternehmer mit Kontakt und ethnischen Wurzeln in ein Ausland sowie den finanziellen Möglichkeiten einer Flucht, wegen Untreue (§ 266 Abs. 1 StGB) fälschlicherweise zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt wird.80 Aller Voraussicht nach wird das Gericht in einem solchen Fall nicht den Eintritt der (formellen) Rechtskraft abwarten, sondern (aufgrund der sich aufdrängenden Fluchtgefahr) einen Haftbefehl erlassen (§ 112 Abs. 1, Abs. 2, Nr. 2 StPO) oder (im Falle eines bestehenden Haftbefehls) die Fortdauer der Untersuchungshaft anordnen (§ 268b StPO). Eine demgegenüber angenommene Korrekturfähigkeit ist daher in manchen Fällen nur theoretischer Natur.81 Des Weiteren spricht gegen die Einbeziehung eines Rechtskraftkriteriums in den Fehlurteilsbegriff schlichtweg der zufällige Zeitpunkt der Fehlerentdeckung in der Rechtsmittelinstanz, also vor Eintritt der Rechtskraft oder nach Eintritt der Rechtskraft im Wiederaufnahmeverfahren.82 Dieser ist im Einzelfall abhängig von vielen Faktoren, beispielsweise der Arbeitsweise jedes einzelnen Prozessbeteiligten.83 Böhme ist in seiner Vermutung zuzustimmen, dass das teilweise vertretene Rechtskraftkriterium vielmehr auf eine Tradition der wissenschaftlich-methodischen Auseinandersetzung mit strafprozessualen Fehlerquellen durch empirische Untersuchungen von Wiederaufnahmen84 zurückzugehen scheint.

Zusammenfassend ist die auf Endgültigkeit und Rechtsfrieden gerichtete Rechtskraft kein notwendiges Kriterium für die Klassifizierung eines Fehlurteils. Auch im Sinne einer umfangreichen Auseinandersetzung mit strafgerichtlichen Fehlurteilen sind anfechtbare Urteile Fehlurteile nach dem hier vorgeschlagenen Begriffsverständnis.

III. Auseinandersetzung mit dem Teilbegriff „Fehl-“

1. Die „Falschheit“ auf Ebene der Sachverhaltsfeststellung und der Rechtsanwendung

Das zentrale Problem des Fehlentscheidungsbegriffs ist die Frage, wann die Entscheidung falsch ist. Anknüpfend an die Begrifflichkeit des Fehlurteils definiert Peters ein Fehlurteil als „[…] ein Urteil, das auf einer unrichtigen Sachverhaltsfeststellung beruht, die im Schuld- und Rechtsfolgenausspruch zu einer sachlich falschen Entscheidung führt.“85 Der Schuld- und Rechtsfolgenausspruch kann jedoch zweifelsohne auch „sachlich falsch“ sein, wenn der Sachverhalt fehlerfrei festgestellt ist, dem Gericht aber auf Rechtsanwendungsebene Fehler unterlaufen. Dies betrifft vor allem Strafzumessungs- und Subsumtionsfehler.

Die Tatsache, dass Fehler nicht nur auf die Ebene der Sachverhaltsfeststellung beschränkt sind, soll an folgenden Beispielen kurz verdeutlicht werden.

Die Möglichkeit von Fehlern auf Rechtsanwendungsebene ist ein Faktum. Auch der Wortlaut der Fehlentscheidungen deutet auf eine weite Auslegung und die Einbeziehung von rechtlichen Fehlentscheidungen hin. Daher wird auch aufgrund des Forschungsbedarfs bei der Frage, wann eine gerichtliche Entscheidung „falsch“ ist, im Folgenden zwischen der Sachverhaltsfeststellung und der Rechtsanwendung differenziert.91

a. Die Ebene der Sachverhaltsfeststellung
aa. Anknüpfungspunkt

Gemäß der in § 244 Abs. 2 StPO kodifizierten Amtsaufklärungspflicht92 ist die Ermittlung des wahren Sachverhalts das zentrale Anliegen des Strafprozesses.93 Diese Amtsaufklärungspflicht gibt jedem Prozessbeteiligten einen unabdingbaren Anspruch darauf, dass die Beweisaufnahme auf alle Tatsachen und alle tauglichen und erlaubten Beweismittel erstreckt wird, welche für die Entscheidung von Relevanz sind (sog. entscheidungserheblichen Tatsachen).94 Die Ermittlung des wahren Sachverhalts ist unverzichtbare Voraussetzung zur Gewährleistung des materiellen Schuldprinzips,95 welches seinerseits ein wesentliches Element des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) ist.96 Um eine ausreichende tatsächliche Grundlage für die richterliche Entscheidungsfindung sicherzustellen, ist das Gericht verpflichtet, die vorhandenen Beweismittel so weit auszuschöpfen, dass die Abwägung der für und wider den Anklagevorwurf streitenden Umstände auf einer möglichst breiten und zuverlässigen Tatsachengrundlage erfolgt.97 Dabei besteht für das Gericht die Verpflichtung, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen, d.h. dass das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten keinen Einfluss auf die Arbeit des Gerichts bezüglich der Bestimmung des Gegenstands und des Umfangs der Aufklärungspflicht hat.98 Daraus folgt, dass das Gericht die zur Verfügung stehenden Beweismittel gegebenenfalls auch gegen den Willen einzelner oder der übrigen Beteiligten ausschöpfen muss.99

Ist allerdings die Wahrheitsfindung das zentrale Anliegen des Strafprozesses, stellt sich die Frage, welche Wahrheit es zu erforschen gilt:100 „Wie viel Wahrheit brauch[t]‌ [es], um auf faire Weise zu einem gerechten Urteil zu kommen?“101

Dem deutschen Strafrechtsprozess liegt grundsätzlich das Ziel der Erforschung der sogenannten materiellen Wahrheit102 zugrunde. Ein Sachverhalt ist danach wahr, mithin die Gerichtsentscheidung richtig, wenn sie in ihren Entscheidungsfeststellungen und im Ergebnis mit der historischen Wirklichkeit übereinstimmt.103 Aus vielerlei Gründen scheint die Geeignetheit dieses Wahrheitsmaßstabs für die Umsetzung in der Praxis jedoch zweifelhaft. So steht die völlige Übereinstimmung von (historischer) Wirklichkeit und Urteilsinhalt aufgrund verschiedener gesetzlicher und praktischer Gründe in Frage.104

Das Prinzip der materiellen Wahrheitsfindung weicht an vielerlei Stellen zugunsten anderer Rechtsgüter, denn die Amtsaufklärungspflicht besteht nach dem BGH „nicht um jeden Preis“.105 Vielmehr muss die Ermittlung des Tatgeschehens in den Grenzen des Möglichen und Zulässigen in optimaler Weise erfolgen.106 Im Folgenden sollen daher gesetzliche und tatsächliche Gründe aufgezeigt werden, die dazu führen, dass die materielle Wahrheitsfindung im Einzelfall doch nicht vordergründiges Anliegen der Sachverhaltsfeststellung ist.

bb. Der Rückzug vom Ziel der materiellen Wahrheitsfindung
(1) Gesetzliche Gründe des Rückzugs vom Ziel der materiellen Wahrheitsfindung

Unter dem Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit (nemo tenetur se ipsum accusare) versteht man, dass der Beschuldigte (bzw. in der Hauptverhandlung der Angeklagte) zum Zwecke der Waffengleichheit in keiner Weise verpflichtet ist, an seiner eigenen Überführung mitzuwirken.107 Dieser Grundsatz ist aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Artt. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG) und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) verfassungsrechtlich abzuleiten.108 Wichtigster Ausdruck ist die Wahlmöglichkeit des Beschuldigten, auszusagen oder die Einlassung zu verweigern, § 136 StPO. Spiegelbildlich verbietet der Grundsatz den staatlichen Behörden, eine aktive Selbstbelastung zu erzwingen, z.B. § 136a StPO. Nimmt der Beschuldigte (oder Angeklagte) sein Schweigerecht in Anspruch, indem er vollumfänglich die Aussage verweigert, dürfen hieraus keine für ihn nachteiligen Schlüsse gezogen werden.109 Deutlicher wird das Weichen vom Ziel der materiellen Wahrheitsfindung, wenn man bedenkt, dass den Angeklagten nicht einmal die prozessuale Pflicht trifft, sich wahrheitsgemäß zu äußern.110

Weiterhin denkbar ist, dass die Aufklärung der materiellen Wahrheit im Strafverfahren durch verfassungsrechtliche Vorgaben, wie z.B. das Recht auf ein faires Verfahren („fair trial“, Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 20 Abs. 3 GG), eingeschränkt wird.111 Man denke exemplarisch daran, dass die Polizei Cannabispflanzen aus einer Privatwohnung beschlagnahmen (§ 94 Abs. 2 StPO) möchte und sich zur Umgehung des Richtervorbehalts (§ 98 Abs. 1, S. 1 StPO) einer Privatperson (z.B. eines Nachbarn) bedient.112

Die verfassungsrechtlichen Regelungen werden durch einfachgesetzliche Vorschriften ergänzt. Dies betrifft insbesondere die Vorschriften zu den Zeugnis- bzw. Auskunftsverweigerungsrechten in den §§ 52, 53, 53a StPO bzw. § 55 StPO. Das Zeugnisverweigerungsrecht schützt als Verwandte des nemo-tenetur-Grundsatzes113 den Zeugen (oder den Berufsgeheimnisträger [§ 53 StPO] sowie sonstige Personen [§ 53a StPO]) vor dem Zwang, gegen seinen Angehörigen auszusagen. Das BVerfG formuliert diesbezüglich plakativ zum Zeugnisverweigerungsrecht eines Sozialarbeiters: „Jede Ausdehnung des strafprozeßualen Zeugnisverweigerungsrechts auf neue Personengruppen schränkt aber die Beweismöglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden zur Erhärtung oder Widerlegung des Verdachts strafbarer Handlungen ein und beeinträchtigt deshalb möglicherweise die Findung einer materiell richtigen und gerechten Entscheidung.“114

Eine weitere und bedeutende Einschränkung der verfahrensrechtlichen Beweismöglichkeiten resultiert aus den Beweisverboten, mithin den Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverboten. Zur Verdeutlichung dient folgender Sachverhalt:115

Nach einem Streit mit seiner Ehefrau hat A seinen Sohn umgebracht. Ursprünglich hat er ausgesagt, sich nicht an die Tat erinnern zu können. Nachdem ihm die Polizei und der Staatsanwalt mehrmals angedroht haben, sie würden ihn, im Falle eines Beharrens auf der bisherigen Aussage, in die Leichenhalle bringen und vor den Leichnam seines Sohnes stellen, legt er ein schriftliches Geständnis ab. Vorliegend stellt die Androhung der Polizei und des Staatsanwalts eine verbotene Vernehmungsmethode in Form der (psychischen) Quälerei dar, § 136a Abs. 1, S. 1, Fall 5, S. 3 StPO. Auch wenn ein Beweiserhebungsverbot nicht zwangsläufig zu einem Verwertungsverbot des Beweismittels führen muss,116 ist die Verwertung des schriftlichen Geständnisses vorliegend ausgeschlossen (§ 136a Abs. 3, S. 2 StPO). Die materielle Wahrheitsfindung muss hier hinter der freien Willensentschließung- und -betätigung (§ 136a Abs. 1 StPO) zurücktreten.

Grundrechtliche und rechtsstaatliche Erwägungen führen daher u.U. dazu, dass historisch richtige Feststellungen, die entgegen verfahrens- Regelungen oder verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen gewonnen wurden, nicht berücksichtigt werden dürfen.117

(2) Tatsächliche Gründe118 des Rückzugs vom Ziel der materiellen Wahrheitsfindung

Neben die gesetzlichen Beschränkungen der materiellen Wahrheitsfindung treten tatsächliche Probleme bei der richterlichen Sachverhaltsrekonstruktion.

Gemäß § 261 Abs. 1 StPO, dem Grundsatz der freien richterlichen und umfassenden Beweiswürdigung,119 entscheidet das Gericht über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach „seiner“ freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung. Am Ende der Beweisaufnahme steht jedoch die Wahrheit.120 Die zunächst stattfindende Beweiswürdigung ist dabei ureigene Aufgabe des Tatrichters.121 Für die sich anschließende Überzeugungsbildung genügt bereits ein nach Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, demgegenüber vernünftige und nicht bloß denktheoretisch begründete Zweifel nicht mehr aufkommen.122 Ist aber auch nach ständiger Rechtsprechung die allgemeine Lebenserfahrung ein maßgebliches Kriterium, erhalten die eigenen menschlichen Erfahrungen und Erkenntnisse der Richter Einzug in die Würdigung. Daher ist die ermittelte Wahrheit teilweise subjektiv geprägt.123 So spricht schon Hirschberg davon, „[…] daß die richterliche Urteilsbildung bei der Feststellung des Tatbestandes bereits eine Auslese aus den festgestellten Einzelheiten, also eine fiktive Verkürzung der Wirklichkeit vornimmt. Der Tatbestand im Strafurteil ist also nicht der wirkliche Tatbestand, sondern eine Auslese.“124 Die Freiheit der Beweiswürdigung geht jedoch nicht so weit, dass die persönliche Überzeugung des Richters allein für eine Verurteilung ausreichend wäre. Vielmehr ist unter der „Freiheit“ zu verstehen, dass das Gericht keinen starren, gesetzlich kodifizierten Beweisregeln unterworfen ist,125 wenn die Überzeugungsbildung stattfindet (z.B. anders noch die Notwendigkeit von einem Geständnis oder zwei Zeugen mit übereinstimmenden Aussagen im Mittelalter126). Maßgeblich ist ein Fürwahrhalten des Gerichts im Sinne einer subjektiven Wahrscheinlichkeit bzw. Gewissheit, die auf einer tragfähigen und objektiven Tatsachengrundlage fußt, wobei eine Verurteilung einer hohen Wahrscheinlichkeit bedarf.127 Die tatsächlichen Probleme der richterlichen Beweiswürdigung bei der Sachverhaltsfeststellung werden auf der anderen Seite von Wahrnehmungs- und Erinnerungslücken sowie vorsätzlichen Falschaussagen der Aussagepersonen, welche vom Gericht unerkannt der Urteilsfindung zugrunde gelegt werden,128 einem hohen Maß an Zeit- und Erledigungsdruck,129 Versäumnissen im Ermittlungsverfahren,130 nicht ausreichenden oder zu vielen, sich gegebenenfalls widersprechenden Beweismitteln131 und dem begrenzten menschlichen Erinnerungsvermögen132 flankiert.133

(3) Die materielle Wahrheitsfindung potentiell gefährdende Vorschriften

Auch Böhme hat erkannt, dass die Palette an gesetzlichen und tatsächlichen Gründen, die zur Beschränkung der (materiellen) Wahrheitsfindung führen, von (neueren) Vorschriften begleitet werden, welche die materielle Wahrheitsermittlung zwar nicht gezielt verkürzen,134 diese aber in der Sache gefährden könnten.135136 Dies betrifft vor allem Regelungen, die (zum Zwecke der Verfahrensökonomie und der prozessualen Effizienz) auf eine (quasi-)konsensuale Verfahrensbeendigung abzielen. Zu diesen Vorschriften gehört insbesondere die erst 2009 in Kraft getretene Kronzeugenregelung des § 46b StGB. Der sog. Kronzeuge, welcher durch seine Aussage zur Belastung eines Anderen beiträgt, erhält hierdurch das Privileg einer Strafmilderung nach § 49 Abs. 1 StGB (§ 46b Abs. 1, S. 1 StGB). Um gerade in den Genuss dieser „Belohnung“ zu kommen,137 könnte der Kronzeuge versucht sein, in Abhängigkeit vom Maß des eigenen Vorteils, falsche Anschuldigungen zu erheben und damit einen Beitrag zu einer falschen Sachverhaltsfeststellung leisten.138

Ähnliche Gefahren gehen auch mit der, inzwischen im Rahmen von § 257c StPO strafprozessrechtlich kodifizierten, Absprache einher. Hier könnte der Angeklagte in Erwartung einer Strafmilderung geneigt sein, taktische Geständnisse abzulegen,139 d.h. beispielsweise nur die Begehung eines Grunddelikts anstatt einer Qualifikation zu gestehen. Resultiert aber aus dem Geständnis ein niedriges Strafmaß (§ 257c Abs. 3, S. 3 StPO), so besteht ein der Situation des Kronzeugen vergleichbares Fehlerpotential.140 Dabei soll das Prinzip der materiellen Wahrheit nach § 257c Abs. 1, S. 2 StPO grundsätzlich unbeeinträchtigt bleiben, da die Amtsaufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO unangetastet bleibt.141 So muss das Gericht, nach der inzwischen entwickelten Rechtsprechung, das Geständnis zwingend auf seine Richtigkeit und auf seine Glaubhaftigkeit prüfen.142 Auch wenn nach der Rechtsprechung bei der Prüfung eines Geständnisses im Rahmen einer Verständigung grundsätzlich die gleichen Anforderungen an die Glaubwürdigkeitsprüfung zu stellen sind wie an ein Geständnis außerhalb des Verständigungsverfahrens,143 wird die entsprechende praktische Umsetzung erheblich angezweifelt. So besteht die Gefahr, dass das Gericht die Glaubwürdigkeit nicht anhand der sonst geltenden Anforderungen der Rechtsprechung überprüft, sondern lediglich anhand der Übereinstimmung des Geständnisses mit der Akte.144

Ein ähnliches Fehlentscheidungspotential könnte auch das Strafbefehlsverfahren bergen, wenn der Angeklagte taktisch und zweckgebunden auf die Einlegung des Einspruchs gegen den Strafbefehl verzichtet (vgl. § 410 I StPO).145 Der Einspruch birgt zudem die Gefahr der „reformatio in peius“. Ein diesbezügliches Verbot gibt es beim summarischen Strafbefehl nicht.146 Einerseits könnte die Staatsanwaltschaft aufgrund prozessökonomischer Gründe versucht sein – gerade in aufwendigen Wirtschafts- und Steuerstrafrechtssachen – eine Hauptverhandlung zu vermeiden, eine umfängliche Aufklärung des Sachverhalts zu unterlassen und daher einen Strafbefehl zu beantragen. Andererseits könnte beim – häufig unter Erledigungsdruck stehenden – Gericht das Gefahrenpotential bestehen, eine mangelhafte Prüfung des Antrags vorzunehmen, bzw. die Sachverhaltsermittlung nur auf Grundlage des staatsanwaltlichen Antrags durchzuführen und ihn unreflektiert zu unterschreiben, da man so eine weitere Akte „vom Tisch“ bekommen könnte.147

(4) Zwischenergebnis

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass dem deutschen Strafprozess zwar das Ziel der materiellen Wahrheitsfindung durch das Gericht zugrunde liegt, die Annahme, dass das Gericht am Ende der Beweisaufnahme immer die historische Wahrheit rekonstruieren würde, ist allerdings eine Illusion. Die Ermittlung der historischen Wahrheit ist im Einzelfall u.U. aufgrund gesetzlicher, tatsächlicher sowie prozessökonomisch und konsensual orientierter Vorschriften nicht immer möglich. „Stellt man sich den Sachverhalt eines Tatgeschehens wie ein Mosaik vor, das aus einer Vielzahl einzelner Teile besteht, so wird man nur in wenigen Fällen alle Einzelteile dieses Mosaiks ermitteln können.“148 Vielmehr ist das Ergebnis der Beweisaufnahme (in der Regel) nur als ein Annäherungswert an die historische Wahrheit zu verstehen.149 Daher kann die materielle, historische Wahrheit allein nicht Maßstab für die Überprüfung einer strafgerichtlichen Entscheidung auf ihre Richtigkeit sein.150

cc. Die forensische Wahrheit

Wenn man das Ergebnis der Beweisaufnahme jedoch nur als einen Annäherungswert begreift, dann nähert sich die Wahrheit nur derart an die historische Wahrheit an, wie sie gerichtlich ermittelbar ist.151 Daher kann nur die „forensische“ (d.h. die gerichtlich ermittelbare) Wahrheit ein tauglicher Überprüfungsmaßstab für eine strafgerichtliche Entscheidung auf ihre Richtigkeit sein.152 Demnach liegt eine falsche Sachverhaltsfeststellung vor, wenn sie nicht der forensischen Wahrheit, also nicht der gerichtlich ermittelbaren Wahrheit entspricht bzw. nicht „lege artis“ ermittelt wurde. Entscheidend ist, ob dem Gericht ein Fehler bei der Sachverhaltsfeststellung unterlaufen ist oder nicht. Ist ein solcher Fehler vorgefallen, weil die Tatsachenfeststellung unrichtig erfolgte oder weil die Feststellung trotz bekanntgewordener Tatsachen, die eine Ermittlung zwingend geboten hätten, unterlassen wurde,153 so ist der festgestellte Sachverhalt forensisch falsch und unter Umständen auch historisch falsch.154

Legt man jedoch dieses Begriffsverständnis der Falschheit zugrunde, ergibt sich ein Dilemma bei prozessordnungsgemäßen und „fehlerfreien“155 Fehlentscheidungen. Demnach würde es sich bei einer Verurteilung eines tatsächlich Unschuldigen nicht um ein Fehlurteil handeln, wenn das Gericht fehlerfrei ermittelt hat („lege artis“) und aufgrund zahlreicher Indizien auch rechtsfehlerfrei zu einer Verurteilung kommen durfte. Der Sachverhalt ist bei Verurteilung eines Unschuldigen jedoch historisch falsch. Der festgestellte Sachverhalt wäre vorliegend demgegenüber nicht forensisch falsch, da er der ermittelbaren Wahrheit entspricht und das Gericht „lege artis“ ermittelt hat. Diesen Konfliktfall hat auch Böhme gesehen und präzisiert daher überzeugend und in sich schlüssig den Begriff, um auch solche Fälle zu integrieren. Für solche Fälle, in denen eine Entscheidung prozessordnungsgemäß und fehlerfrei zustande gekommen ist, aber der historischen Wahrheit nicht entspricht, prägt er den Begriff des „Fehlurteils im weiteren Sinne“.156 Die beschriebenen Entscheidungen, die der forensischen Wahrheit nicht entsprechen und Fehler enthalten, sind demgegenüber „Fehlentscheidungen im engeren Sinne“.157

dd. Sachlicher158 Bezugspunkt der Falschheit

Was ist aber der konkrete Bezugspunkt der Falschheit oder mit anderen Worten, was muss genau an der Feststellung falsch sein, damit sie als Fehlentscheidung zu klassifizieren ist? Nicht jede beliebig festgestellte Tatsache kann einen ganzen Sachverhalt falsch werden lassen.159 Zur Verdeutlichung ein kurzes Beispiel:

T betritt an dem sonnigen Vormittag des 06.06.2020 um 10:23 Uhr das Geschäft des Juweliers J. Er ist mit einer schwarzen Jacke, einer schwarzen Hose und einer, tief ins Gesicht gezogenen, dunkelblauen Kappe der Marke „Nike“ bekleidet. Mit vorgehaltenem Sprungmesser fordert er den J dazu auf, ihm das Geld aus der Kasse auszuhändigen und im Übrigen keinen Widerstand zu leisten, wenn T die Vitrinen ausräumt und die darin befindlichen Uhren an sich nimmt. Im Zuge der gerichtlichen Vernehmung sagt die bei der Tat anwesende Reinigungskraft R aus. Sie sei sich sicher, dass (der einzige Tatverdächtige) T das Geschäft am bewölkten Vormittag des 06.06.2020 um 10:20 betreten hat. Er sei in eine Schwarze Hose und eine schwarze Jacke gekleidet gewesen und habe darüber hinaus eine tief ins Gesicht gezogene Kappe der Marke „Adidas“ getragen. Im Anschluss an den Abschluss der Beweisaufnahme wird T auf Grundlage der Aussage der R verurteilt.160161

Der hier der Verurteilung zugrunde gelegte und ermittelte Sachverhalt ist jedoch an mehreren Stellen „falsch“. So war der Vormittag des 06.06.2020 nicht bewölkt, sondern sonnig und T betrat das Geschäft nicht um 10:20 Uhr, sondern um 10:23 Uhr. Des Weiteren trug der Täter T keine Kappe der Marke „Adidas“, sondern der Marke „Nike“. Allerdings sind diese Feststellungen für die Verurteilung nicht maßgebend. Das Gericht hätte den T aller Wahrscheinlichkeit nach auch ohne diese „Fehler“ verurteilt. Es wäre lebensfremd, vorliegend den ganzen Sachverhalt für „falsch“ ermittelt zu befinden und hier somit ein Fehlurteil anzunehmen.162 Vielmehr führen nur diejenigen falschen Sachverhaltsfeststellungen dazu, dass ein Sachverhalt insgesamt und fehlentscheidungsrelevant falsch wird, die entscheidungswesentlich sind. Davon sind zumindest solche Sachverhaltsfeststellungen umfasst, die schuldspruchs- und strafzumessungsrelevant sind.163

b. Die Ebene der Rechtsanwendung
aa. Subsumtions-, Strafzumessungs- und Verfahrensfehler

Die Tatsache, dass Fehler – neben der Sachverhaltsfeststellung – auch auf Ebene der Rechtsanwendung vorkommen können, wurde bereits dargestellt. Demnach kommen Fehler insbesondere dort in Betracht, wo der Sachverhalt fehlerhaft unter die maßgebliche Norm subsumiert wird (sog. Subsumtionsfehler) oder dort, wo die Rechtsfolge fehlerhaft festgesetzt wird (sog. Strafzumessungsfehler, welche nicht nur die Strafzumessung im engeren Sinne, sondern auch die fehlerhafte Anordnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung nach §§ 61 ff. StGB bzw. Nebenfolgen umfassen).164 Wie in Kap. 1. A. III. 1. in Beispiel 4 aufgezeigt, kann auch die falsche Anwendung formellen Rechts, die sich auf die materielle Rechtslage durchschlägt, fehlerbehaftet sein.165 Auch wenn Fehler auf Ebene der Rechtsanwendung zweifelsohne denkbar sind, ist deren Einbeziehung in den Fehlentscheidungsbegriff dennoch in der Literatur umstritten.

So möchte Judex sowohl Subsumtions- als auch Strafzumessungsfehlern für die Begriffsbestimmung keine Berücksichtigung schenken. Insbesondere Subsumtionsfehler seien „meist“ (ohne konkreten Beleg) im Rechtsmittelverfahren korrigierbar und im Übrigen auch „selten“.166 Diese Auffassung vermag allerdings nicht zu überzeugen. Zunächst einmal wurde im Rahmen der hiesigen Auseinandersetzung bereits dargestellt, warum die Rechtskraft eines Urteils bzw. spiegelbildlich die noch bestehende Anfechtbarkeit im Rechtsmittelverfahren kein taugliches Kriterium zur Klassifizierung eines Judikats als ein Fehlurteil sein kann (vgl. Kap. 1. A. II. 2.). Ein weiterer und wichtiger Punkt ergibt sich daraus, wenn man sich erneut das Beispiel 2 aus Kap. 1. A. III. 1. vor Augen führt. Dort nahm der A an einem illegalen Autorennen teil, bei dem ein Mensch ums Leben kam. Angenommen, dass das Gericht den A wegen Mordes (§ 211 Abs. 1 StGB) verurteilt, obwohl er die Tötung eines anderen Menschen nicht „billigend in Kauf“167 genommen hat, sondern vielmehr ernsthaft darauf vertraut hat, die Tatbestandsverwirklichung werde nicht eintreten,168 dann wäre dies ein Fehler in der Rechtsanwendung. Der A würde vorliegend bei niedrigerer Schuld zu hart verurteilt werden,169 d.h. zu hart für die den A tatsächlich treffende und niedrigere individuelle Vorwerfbarkeit bzw. Verantwortlichkeit.170 Böhme ist in seiner Ansicht zuzustimmen, wonach eine Entscheidung nicht nur falsch sei, wenn ein Schuldiger freigesprochen (oder ein Unschuldiger verurteilt) wird, sondern auch dann, wenn ein Schuldiger zu milde oder zu hart bestraft wird.171 Deshalb ist der Schuldspruch durchaus ein geeigneter Bezugspunkt zur Beantwortung der Frage, ob ein Rechtsanwendungsfehler vorliegt.

Weshalb Judex dagegen auch Fehler bei der Strafzumessung nicht in seinen Fehlurteilsbegriff integrieren will, bleibt derweil auch in seinen eigenen Ausführungen offen.172 Gegen die Einbeziehung der Strafzumessungsfehler in die Definition könnten möglicherweise praktische Gründe sprechen. So sind Fehler bei der Strafzumessung im weiteren Sinne, d.h. bei Anordnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung (§§ 61 ff. StGB), wohl regelmäßig sehr offensichtlich und daher unproblematisch in der Rechtsmittelinstanz korrigierbar. Exemplarisch hierfür steht die rechtsfehlerhafte Einweisung eines uneingeschränkt schuldfähigen Angeklagten in ein psychiatrisches Krankenhaus (§ 63 StGB).173 Auch hier sei jedoch erneut darauf hingewiesen, dass die Korrigierbarkeit im Rechtsmittelverfahren, mithin die (formelle) Rechtskraft, kein Definitionsmerkmal des hier vertretenen Begriffsverständnisses ist. Bei der Strafzumessung im engeren Sinne sind Fehler des Gerichts allerdings weniger konkret festzustellen, „weshalb die Unterscheidung zwischen richtiger und falscher Rechtsanwendung hier bisweilen schwierig ist.“174 Dies zeigt sich insbesondere bei der Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung, § 56 Abs. 2 StGB:

„Das Gericht kann unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 auch die Vollstreckung einer höheren Freiheitsstrafe, die zwei Jahre nicht übersteigt, zur Bewährung aussetzen, wenn nach der Gesamtwürdigung der Tat und Persönlichkeit des Verurteilten besondere Umstände vorliegen. Bei der Entscheidung ist namentlich auch das Bemühen des Verurteilten, den durch die Tat verursachten Schaden wiedergutzumachen, zu berücksichtigen.“ Damit Strafzumessungsfehler dennoch eine konturenhafte Untergruppe der Rechtsanwendungsfehler darstellen, kann man einen solchen Fehler jedenfalls dann bejahen, wenn das Gericht konstitutive Strafzumessungserwägungen nicht gesehen und angestellt oder anerkannte Regeln der Strafzumessung missachtet hat175 und eine schuldangemessene Bestrafung nicht mehr gewährleistet ist.

Die Einbeziehung von Verfahrensfehlern bzw. die falsche Anwendung formellen Rechts im Allgemeinen, die sich auf die materielle Rechtslage durchschlägt, wird demgegenüber gemeinhin anerkannt176 oder schlicht vorausgesetzt.177

bb. Exkurs: Historischer Anknüpfungspunkt bei Rechtsänderungen

Im Bereich der rechtlichen Fehlentscheidungen178 hat sich Fischer mit der Frage beschäftigt, welches Recht im Falle einer Rechtsänderung für die Bewertung, ob es sich um eine Fehlentscheidung handelt, maßgeblich ist.179 Demnach dürfe man Fehlentscheidungen nicht ahistorisch und somit außerhalb des gesetzgeberisch-historischen Kontextes bewerten. Diesbezüglich nennt er exemplarisch Fälle von Verurteilungen aus früheren Jahrhunderten wegen Schadenszaubers, Buhlerei mit dem Teufel oder Gotteslästerung. Nach Fischer sei es unsinnig, jene Urteile nach modernen Maßstäben zu messen und als Fehlurteile einzustufen.180 Selbst wenn sich also im Verlauf der Zeit herausstellen sollte, dass das historische (und zum Zeitpunkt der Tat geltende) Recht aus heutiger Perspektive nicht der materiellen Gerechtigkeit entspricht oder gar historisch unsinnig gewesen ist, seien Urteile, die sich an dem damals geltenden Recht orientiert haben, keine Fehlurteile. Die rechtliche Bewertung der erkennenden Richter habe in diesem Fall der jeweils geltenden Gesetzeslage entsprochen. Dies entspricht unserer heutigen Sicht des verfassungsrechtlich und rechtsstaatlich (Art. 20 Abs. 3 GG) verankerten Gesetzlichkeitsprinzips „nulla poena sine lege“ (Art. 103 Abs. 2 GG). Dem pflichtet auch Barton bei, der in diesem Zusammenhang (in Form eines aktuellen Beispiels) klarstellt, dass es „natürlich“ kein Fehlurteil darstelle, wenn der Tatrichter bezogen auf die Autoraserfälle181 und entsprechend dem Gesetzlichkeitsprinzip nicht wegen des inzwischen geregelten § 315d StGB verurteilt hat, wenn die Rennfahrt vor Inkrafttreten der neuen Vorschrift erfolgte.182

c. Zusammenfassung

Bei einer gerichtlichen Entscheidung handelt es sich um eine falsche Entscheidung, mithin eine Fehlentscheidung, wenn sie nicht mit der forensischen Wahrheit übereinstimmt. Dabei ist zwischen Fehlern auf Ebene der Sachverhaltsfeststellung und auf Ebene der Rechtsanwendung (Subsumtions- und Strafzumessungsfehler sowie die fehlerbehaftete Anwendung formellen Rechts) zu unterscheiden.

Entscheidungen, die der forensischen Wahrheit nicht entsprechen, weil sie nicht mit der gerichtlich ermittelbaren Wahrheit übereinstimmen bzw. nicht „lege artis“ ermittelt wurden, stellen Fehlentscheidungen im engeren Sinne dar. Entscheidungen, die hingegen prozessordnungsgemäß und fehlerfrei zustande gekommen sind, die aber der historischen Wahrheit nicht entsprechen, sind Fehlentscheidungen im weiten Sinne.

2. Fehlentscheidungen zu Lasten und zugunsten des Betroffenen?

In ihrer Wirkrichtung können Fehlentscheidungen nicht nur zuungunsten (Verurteilung eines bzw. Anordnung der Untersuchungshaft bei einem Unschuldigen), sondern auch zugunsten (Freispruch eines bzw. Ablehnung des Erlasses eines Strafbefehls bei einem Schuldigen) vorkommen. Vom Standpunkt des naiven-intuitiven Begriffs183 aus, könnte man nur von einer Fehlentscheidung sprechen, wenn „der vermeintliche Täter die festgestellte Tat nicht begangen hat.“184 Insbesondere weist Schwenn – anders als Barton, der solche Fälle auch unter das „faktische“185 Begriffsverständnisses fasst – darauf hin, dass fehlerhafte Entscheidungen zugunsten des Beschuldigten nicht unmittelbar mit rechtswidrigen und intensiven Grundrechtseingriffen verbunden seien.186 Ein solch enges Begriffsverständnis vermag allerdings aus vielerlei Gründen nicht zu überzeugen. Zunächst einmal sieht das Gesetz bei der Regelung der Vorschriften zur Wiederaufnahme selbst eine Differenzierung danach vor, ob die Wiederaufnahme zugunsten oder zuungunsten des Betroffenen erfolgen soll.187 So regelt § 359 StPO abschließend die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten,188 d.h. die Durchbrechung der Rechtskraft zur Beseitigung von Fehlentscheidungen189 zuungunsten des Betroffenen. Spiegelbildlich sieht § 362 StPO die Wiederaufnahme zuungunsten des Verurteilten vor, also die Korrektur eines Fehlurteils zugunsten des Betroffenen. Damit geht offensichtlich auch der Gesetzgeber davon aus, dass es zu fehlerhaften gerichtlichen Entscheidungen kommen kann, die den Verurteilen zu Unrecht belasten oder zu Unrecht begünstigen.190

Details

Seiten
568
ISBN (PDF)
9783631925300
ISBN (ePUB)
9783631925317
DOI
10.3726/b22234
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Dezember)
Schlagworte
Personalbeweisschwäche Fehlerquellen Fehlurteil Fehlentscheidung Gerichtliche Aufklärungsfehler Fehlervermeidung/Minimierung/Korrektur Medienöffentlichkeit Strafbefehl Kronzeugenregelung Absprache/Verständigung/Deal
Erschienen
Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 2024. 568 S., 1 farb. Abb., 2 s/w Abb., 11 Tab.
Produktsicherheit
Peter Lang Group AG

Biographische Angaben

Marius Braun (Autor:in)

Marius Braun studierte Rechtswissenschaften an der FU Berlin (Erstes Juristisches Staatsexamen), wo er 2020 promovierte. Anschließend absolvierte er das Referendariat am Kammergericht Berlin und legte das Zweite Juristische Staatsexamen ab. Seit Juli 2024 ist der Autor als Richter in Berlin tätig.

Zurück

Titel: Fehlentscheidungen in der Strafjustiz – Wenn die Rechtsprechung Unrecht spricht